Warte, bis du schlaefst
er konnte eine Situation blitzschnell erfassen und mit großer Genauigkeit abschätzen und beurteilen. Ich wusste, dass ich auch so war. Mack war dagegen mehr wie Mom. Er gab immer jedem eine Chance. Und wenn er merkte, dass er hereingelegt oder schäbig behandelt worden war, suchte er, genau wie sie, nicht die Auseinandersetzung, sondern entzog sich einfach der Situation. Und genau das, dachte ich, tut Mom auch jetzt wieder: Sie betrachtet Macks Nachricht in der Kollekte als einen Schlag ins Gesicht.
Ich ging ans Fenster, um die Aussicht zu betrachten. Da ich wusste, dass Mack in der Wohnung in Sutton Place oft stundenlang am Fenster gestanden und das Panorama genossen hatte, den Blick auf den East River mit seinen Lastkähnen und Booten, auf die Brücken mit ihren Lichtern, auf die startenden und landenden Flugzeuge drüben am La Guardia Airport, war ich sicher, dass er auch oft aus diesem Fenster geschaut hatte, das auf die West End Avenue hinausging, auf den ständigen Strom von Menschen auf
den Bürgersteigen, auf den Verkehr, der sich Stoßstange an Stoßstange durch die Straße wälzte.
Der Traum, den ich am Muttertag nach seinem nächtlichen Anruf gehabt hatte, kam mir in den Sinn. Wie in diesem Traum hatte ich im Moment das Gefühl, auf einem dunklen Weg zu gehen und verzweifelt nach ihm Ausschau zu halten.
Und genau wie im Traum warnte er mich ausdrücklich davor, ihm zu folgen.
11
»Detective Barrott, Leesey hat diese Bar gestern um drei Uhr in der Früh verlassen. Wir haben jetzt Mittwoch, ein Uhr nachmittags. Sie ist jetzt schon seit vierunddreißig Stunden verschwunden. Sollten Sie nicht noch einmal bei allen Krankenhäusern nachfragen? Wenn es jemanden gibt, der weiß, wie viel in den Notfallambulanzen los ist, dann bin ich das.«
Dr. David Andrews saß an dem kleinen Küchentisch in der Studentenwohnung seiner Tochter, die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt. Nur noch ein Häufchen Elend, am Rand der Verzweiflung, unter Schlafentzug leidend, hatte er es trotz aller Bitten seines Sohnes abgelehnt, ihn in dessen Wohnung zu begleiten und dort das Weitere abzuwarten. Erst am Morgen war Gregg schließlich nach Hause gegangen, um sich zu duschen und umzuziehen, bevor er ins Krankenhaus fahren wollte, um nach seinen postoperativen Patienten zu sehen.
Roy Barrott saß Leeseys Vater gegenüber. An dem Abend, an dem meine Tochter auf einem Ball war, ist seine Tochter in diese Bar gegangen, und danach war sie verschwunden, dachte Roy mit einem plötzlichen Schuldgefühl wegen seines glücklichen Schicksals. »Dr. Andrews«, sagte er, »Sie müssen sich an die Möglichkeit klammern, dass Leesey unter Umständen überhaupt nichts zugestoßen ist. Sie ist erwachsen und hat das Recht auf ein Privatleben.«
Barrott sah, dass Andrews’ Miene sich verhärtete. Es klingt, als ob ich andeuten wollte, dass sie ein Mädchen ist, das leicht aufzureißen ist, dachte er und beeilte sich, hinzuzufügen: »Bitte glauben Sie nicht, ich sei der Meinung, dass Leesey gar nichts zugestoßen ist. Wir gehen hier von einer durchaus ernstzunehmenden Angelegenheit aus.« Barrotts Vorgesetzter, Captain Larry Ahearn, hatte die Dringlichkeit dieses Falls bereits unmissverständlich klargemacht.
»Wenn das so ist, was unternehmen Sie denn, um sie zu finden?« Der Zorn war aus David Andrews’ Miene gewichen. Er sprach leise und stockend.
Er steht kurz vor einem Zusammenbruch, dachte Barrott. »Wir haben uns die Bänder der Überwachungskameras im Woodshed angesehen, und danach ist sie tatsächlich allein weggegangen. Außer den Musikern der Band, dem Barkeeper und dem Wachpersonal war niemand mehr in der Bar. Sie versichern alle hoch und heilig, dass nach Leesey wenigstens zwanzig Minuten lang niemand die Bar verlassen hat, daher nehmen wir an, dass niemand ihr gefolgt ist. Bis jetzt haben unsere Nachforschungen ergeben, dass diese Typen alle in Ordnung sind. Im Augenblick untersuchen unsere Leute Bild für Bild die Aufzeichnung der Überwachungskamera vom Montagabend, um irgendwelche potenziell auffälligen Leute ausfindig zu machen.«
»Vielleicht hat draußen jemand auf sie gewartet, der vorher in der Bar war.« David Andrews war sich bewusst, dass seine Stimme monoton klang. Wahrscheinlich will dieser Barrott mich nur beruhigen, dachte er. Dann ging ihm zum tausendsten Mal der Gedanke durch den Kopf: Etwas Schreckliches ist Leesey zugestoßen, ich weiß es!
Er rückte seinen Stuhl vom Tisch ab und stand auf. »Ich werde eine
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