Warten auf den Monsun
vor dem Feind, seit er gesehen und gerochen hat, was sie mit den Männern des vierten Bataillons gemacht haben. Keiner redet darüber, das hat er ihnen seit jenem Tag verboten. Sie schleichen, wenn sie nicht schlafen oder sich ausruhen, so tief geduckt wie möglich, unsichtbar weiter. Die Sonne hat den höchsten Stand erreicht und schafft es, bis zum Fuß der Bäume durchzusickern. Zwischen den flackernden Strahlen kratzen die drei Männer so leise, wie es nur geht, ihre Näpfe leer.
Ihm ist heiß. Schlips und Oberhemd hat er verloren, er besitzt nur noch seine Uniformjacke. Wenn er lebend hier herauskommt, wird er dem Generalstab in London schreiben, nimmt er sich vor, denn die Idioten dort haben nicht nachgedacht, bevor sie ihn und seine Männer in den Dschungel schickten. Die Uniformen sind aus unverwüstlichem Leinen, bei dieser Hitze untauglich. Man schwitzt darin fürchterlich und scheuert sich bei jeder Bewegung die feuchte Haut am groben Stoff auf. Er sieht, wie seine Männer eindösen. Er muß ihnen sagen, daß sie wachsam bleiben sollen, aber der volle Magen weckt auch bei ihm das Bedürfnis nach Schlaf, richtigem Schlaf, wie er ihn schon seit Wochen entbehren mußte. Er zieht seine Jacke aus, rollt sie zusammen und schiebt sie sich hinter den Kopf, an den Baumstamm, an dem er angelehnt sitzt. Wann ihm die Augen zugefallen sind, weiß er nicht, aber plötzlich hört er die helle Stimme von Vera Lynn.
We’ll meet again
Don’t know where
Don’t know when
But I know we’ll meet again
Some sunny day
Die Stimme ist ganz nah. Noch eine Sekunde denkt er, daß sie in einem Traum seines verbotenen Schlafes singt, aber dann wird ihm klar, daß es tatsächlich die Stimme von the Forces’ Sweetheart ist, die durch die Wildnis tönt. Auch die beiden anderen Männer springen auf. Diese Stimme kann nur eines bedeuten: In der Nähe ist eine andere britische Einheit. Ihn durchzuckt noch der Gedanke, daß die wochenlange Stille eigentlich sehr unerwartet durchbrochen wird, aber die Freude, Landsleute hier im Urwald anzutreffen, überwiegt die Skepsis. Wie ein Mann stürmen sie auf die Frauenstimme los, die wie eine Sirene lockt.
Sie rennen auf eine Lichtung. Die Sonne blendet nach dem stets gedämpften Licht unter den ewigen Bäumen. Mitten auf der Lichtung steht ein Kurbelgrammophon.
So, will you please say hello
To the folks that I know
Tell them I won’t be long
They’ll be happy to know
That as you saw me go
I was singing this song
We’ll meet again
Don’t know where
Don’t know when
But I know we’ll meet again
Some sunny day
Kein Mensch weit und breit, nur das einsame Grammophon. Sie sehen sich an. Der Zweifel und die Verwunderung, in Wirklichkeit nur wenige Sekunden, scheinen endlos. Victor sieht, wie sich das schwarze Vinyl dreht, das Glitzern der Rillen, die Reflexion der Sonne, die Nadel, die mit der Bewegung der 78er-Platte mitwogt. Vera Lynns vertraute Stimme tönt, begleitet von einem Knacken, durch den Dschungel. Er erinnert sich an die Frau im weißen Kostüm auf dem Podium. Ein kleiner Punkt war sie, so weit weg. Alle sangen mit. Hier singt sie direkt vor ihm, keine zehn Meter von ihm entfernt klingt ihre Stimme aus dem Trichter. Wo sind die anderen? Liegen sie schlafend unter den Bäumen? Wenn es hier Musik gibt, muß es auch Zelte geben, etwas zu essen, Munition, Medikamente, eine Landkarte …
Er will gerade die Hand heben, um ein Zeichen zu geben, daß etwas faul ist, als die Kugel durch die Luft pfeift. Der junge Mann neben ihm, ein Unterleutnant, der aus Gloucester stammt und zum ersten Mal in Indien ist, fällt tot um. Kein Laut, kein Seufzer. Zwischen seinen Augen ein kleines Loch, etwas Blut tropft heraus, während Vera den letzten, langen Ton zum besten gibt und die Klaviermusik verklingt. Aus dem Augenwinkel sieht er, daß der Gefreite die Hände hebt. Die Nadel bleibt in der Rille hängen, wie ein träge tickendes Metronom.
Wo sind sie? Warum kommen sie nicht zum Vorschein? Die Angst, die ihn ständig begleitet hat, ist wie weggeblasen. Er will die Hände nicht hochnehmen. Er will ihnen die Kehle durchschneiden, er will Vergeltung für das, was sie getan haben. Warum kommt niemand aus dem Wald hervor? Wer hat geschossen? War es nicht der Feind, sondern ein verzweifelt halluzinierender Brite, der davon überzeugt ist, daß sie der Feind sind? Noch immer schleift die Nadel tickend über die Schallplatte. Er weiß, daß die Japaner Soldaten, die sich
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