Warten auf den Monsun
auch der Fluß war ausgetrocknet. Erst dreißig Kilometer weiter gab es einen kleinen See, der noch Wasser enthielt. Der Besitzer des Geländes verkaufte es für viel Geld. Dorthin würden die Leute, die nach Wasser suchten, also nicht gehen. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als im Flußbett zu graben, bis sie auf Grundwasser stießen.
In der Ferne verklang das Sirenengeheul. Charlotte vergaß die Musik und schlich so leise sie konnte die Treppe hinunter. Im Klavierzimmer hörte sie die Nähmaschine surren. Durch die Seitentür glitt sie wie ein Schatten in den Garten.
Draußen war es nicht kühler als im Haus. Sie ging nicht den Pfad hinunter zur Straße, sondern in die andere Richtung, durch den Garten, am Apfelbaum vorbei. Es fiel ihr auf, daß der Baum nicht mehr so verdorrt aussah wie vor ein paar Wochen. Für einen Moment kam ihr der Gedanke, daß es auf ihrem Grundstück vielleicht eine neue natürliche Quelle gab, aber das hatte ihr Vater mehrere Male untersuchen lassen. Der einzige Brunnen, der jemals angelegt worden war, hatte zwei Jahre lang Wasser gegeben, doch das stank so sehr, daß nicht einmal der Mali es benutzen wollte; die Blumen würden davon »traurig«, hatte er behauptet. Daß der Regen ausblieb, hatte nur einen Vorteil: Sie brauchte das Gras nicht zu mähen, und der alte Lloyds mußte nicht repariert werden.
Sie ging am Schuppen des alten Mali vorbei, wo der Hügel wieder nach unten abfiel, bis zu einem verdorrten Hain unten im Garten. Wenn der Regen losbrach, würden die Bäume hier binnen einer Woche erblühen, und vom honigsüßen Duft angelockte Vögel würden sie wochenlang des Morgens wecken. Sie ging in das Buschwerk hinein. Hier gab es einen Pfad, den außer ihr niemand benutzte. Sie mußte einen Zweig wegschieben, der abbrach, weil er verdorrt war.
Hätte sie hier jemand sehen können, dann wäre ihm aufgefallen, daß sie sich ganz anders fortbewegte als am Tag, wenn sie in ihrer gepflegten, damenhaften Garderobe die Alltagsdinge erledigte oder in den Club ging – mit einer distinguierten Zurückhaltung, die ihr über die Jahre hin, ohne daß sie es gemerkt hatte, zur zweiten Natur geworden war. Den Kopf hielt sie ein bißchen schief, und die Füße setzte sie bei jedem Schritt so genau, daß man meinen konnte, sie habe Angst, plötzlich in ein Loch zu fallen. Jetzt aber ging sie ganz anders, leichter, in ihren Schritten war ein Verlangen.
Sie kam zu einer mannshohen Mauer, die den ganzen Garten umschloß. Sie mußte kurz suchen, ehe sie das kleine Loch in der Mauer fand, das ihrem Fuß Halt gab. Auch für ihre Hände gab es Vorsprünge, die sie schon öfter benutzt haben mußte. Von ihrer bürgerlichen Vornehmheit war nichts mehr übrig, seufzend und schnaufend kletterte sie über die Mauer. Sie merkte, daß nicht nur die Hitze, sondern auch die Jahre ihren Tribut forderten, denn sie besaß nicht mehr die Geschmeidigkeit, mit der ihr die Kletterei früher gelungen war. Trotzdem schaffte sie es auch jetzt. Keuchend, aber zielstrebig marschierte sie in eine schmale Gasse, lief bis zum Ende, wo diese in ein Sträßchen überging, das wieder hügelaufwärts führte, zum weniger dicht besiedelten Stadtrand. Nach einer Viertelstunde gelangte sie zu ein paar Bäumen, die weitaus verdorrter aussahen als ihr Apfelbaum, dann ging die Straße wieder bergab. An einer Kreuzung stand ein kleines Haus. Ohne anzuklopfen ging sie hinein.
»Ach, du bist es.« Die kleine Inderin stand auf und umarmte Charlotte. »Du vergißt mich langsam.«
»Sita, dich vergesse ich nie.«
»Aber ich habe dich schon drei Wochen nicht gesehen.«
»Ich habe viel zu tun.«
»Zu tun? Hast du schon gegessen?« Sita legte die Hände um Charlottes Hüften. »Du bist viel zu mager. Viel zu mager.«
»Ach, die schreckliche Hitze …«
Die ehemalige Ayah öffnete ihren Kühlschrank und nahm eine ganze Batterie von Edelstahlschälchen heraus. »Ich habe noch ein bißchen Krabben-Curry und ein Stück gebratenen Fisch.« Sie zog den Deckel von einem der Schälchen und schaute hinein. »Ach ja, und diese Tomaten hier sind lecker …!« Sie tunkte den Finger in die Sauce und steckte ihn Charlotte in den Mund. Die begann zu strahlen. »Die Kichererbsen sind zu scharf für dich, aber das Aloo gobi und das Dhal werden dir schmecken.« Sie hatte schon einen Teller vollgepackt, als sie fragte: »Du hast doch Appetit, oder?«
Charlotte lief das Wasser im Mund zusammen. Jetzt erst merkte sie, daß sie hungrig war. Mit
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