Warten auf den Monsun
an einer Kette glitzern. Peter nimmt die ausgemergelten Hände des Toten und faltet sie ihm auf der Brust. Das ist das einzige Ritual, das er hier ausführen kann. Mit den Stiefeln und der Hose kriecht er an seinen Platz zurück. In der fleckigen Khakiunterhose sieht der Körper jungenhaft unberührt aus. Nur die Fliegen und das fehlende Auge verunstalten den Anblick des aufgebahrten grünen Soldaten.
Er hat zum ersten Mal seit Tagen geschlafen, im Sitzen, an einen Zaunpfosten gelehnt. Es ist noch dunkel, als er aufwacht und merkt, daß sich der süßliche in einen bitteren Leichengeruch verwandelt hat, der die zweite Phase ankündigt. Die Leiche wird sich in den kommenden Stunden aufblähen wie ein Ballon. Sein Hungergefühl ist völlig verschwunden, der Durst jedoch nicht. Seine Lippen sind aufgesprungen, und seine Zunge sucht verzweifelt nach Feuchtigkeit in verborgenen Höhlungen seines Mundes. Als der Morgen dämmert, ist der Schleier vor seinen Augen verschwunden. Er hebt einen kleinen Stein auf, zieht die Hose des toten Soldaten auf seinen Schoß und bearbeitet die Nähte, um sie aufzutrennen. Solange er am Leben ist, muß und wird er versuchen, seine Männer aus dieser Lage zu retten.
1955
Bombay
Madan rennt die Straße entlang, in der Hand einen in Papier eingewickelten Stoff. Seit er Lehrjunge in der Weberei ist, kommt er nur noch selten nach draußen. Er schläft unter der Überdeckung auf dem Flachdach neben Subhash. Er ißt mit den Webern in dem kleinen Raum neben den Webstühlen, und tagsüber erledigt er die Aufträge, die Chandan Chandran ihm erteilt. Nach den ersten Tagen, an denen er Stoffe aufgeribbelt hat, weiß er, wie Textilien gewebt werden. Danach hat er wochenlang beim Einspannen der Fäden und Aufrollen der Garnspulen geholfen. Meister Chandran hat ihm beigebracht, wie er einen fertigen Stoff säumen muß, mit grobem oder feinem Stich, je nach Gewebe. Eigentlich gehört es nicht zu seinen Aufgaben, den Kunden ihre Stoffe zu bringen, aber im Moment geht es in der Weberei sehr hektisch zu. Der Kuli mit seinem Fahrrad war noch nicht zurück, und Meister Chandran hat betont, wie eilig es sei, also rennt Madan so schnell er kann zu der Villa hinter dem Tempel mit dem hohen Turm. Wenn er früher so schnell lief, war er immer mit Abbas auf der Flucht. Jetzt rennt er mit einem Auftrag an denselben Häusern vorbei und durch dieselben Gassen.
Den Tempel mit dem hohen Turm kennt er. Sie bekamen dort manchmal einen Teller mit Essen, wenn das Betteln nichts gebracht hatte und der Priester in guter Stimmung war. Madan steht nun vor der Mauer, die die Villa umgibt.
Am Tor sitzt ein Wächter, der eine Uniform mit glänzenden Knöpfen und eine Mütze mit einer Tresse trägt. Er hält Madan auf. »Zu wem willst du?«
Madan zeigt ihm das Päckchen.
»Für wen ist das?«
»Für die gnädige Frau«, versucht Madan zu sagen, aber er preßt nur unverständliche Laute hervor.
Der Mann sieht ihn voller Abscheu an und zieht ihm das Päckchen aus den Händen, als könnte es durch ihn verseucht werden.
Am liebsten wäre Madan unter seinen Armen durch zur Haustür gerannt, um den Stoff selbst abzugeben, dann würde er sicher ein Trinkgeld bekommen, wie der Kuli erzählt hatte, aber der Wächter sieht ihn so streng an, daß er es nicht wagt.
Wenn er den kürzesten Weg zurück zur Weberei nehmen würde, müßte er wieder am Tempel entlanglaufen. Doch der Hafen, der nicht weit entfernt ist, zieht ihn wie ein Magnet an. Er will nicht – aber er kann sich nicht dagegen wehren.
Beim Anblick der beiden verfallenen Speicherhallen erschrickt er. Drohend stehen sie am Kai, als seien sie es leid, auf ihn zu warten. Seine Füße, die vorangezogen wurden, bleiben plötzlich stehen. Verstört schaut er auf die Stelle, wo sich die beiden Gebäude berühren. Der Spalt, durch den er und Abbas gekrochen sind, ist so gut wie verschwunden. Es sieht so aus, als wären die beiden Gebäude dichter zusammengerückt. Nicht mal ein magerer Hund oder eine fette Ratte könnte noch hindurchkriechen. Madan legt zögernd die Hand auf den Spalt und fühlt die Zugluft. Ganz vorsichtig steckt er die Nase in den Spalt und schnuppert. Wo bist du? Abbas, wo bist du? Er riecht modriges Holz und Teer, nicht Fäulnis und Verwesung. Madan tritt einen Schritt zurück. Er blickt sich suchend um, ob er wirklich am richtigen Ort steht und der Spalt nicht woanders ist. Aber keines der anderen Gebäude hat eine Ähnlichkeit mit
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