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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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den Lagerhäusern, zwischen die sie damals gekrochen sind, es können nur diese beiden sein. Er drückt das Gesicht in den schmalen Spalt und späht angestrengt hinein. Wo bist du? Es ist stockdunkel, er kann nichts erkennen. Enttäuscht schlägt er fest auf die schmale Öffnung. Ich habe dich nicht vergessen. Gibt es einen Spruch, den er aufsagen muß, eine Parole, damit die Wände weichen? Ich wollte dich nicht allein lassen, bitte glaube mir . Nun etwas ruhiger, streicht Madan mit der Hand liebevoll über die schmale Öffnung. Ich wollte zurückkommen, aber ich habe mich nicht getraut. Seine Finger krümmen sich in dem Spalt. Ich hatte Angst. Angst, daß du aussehen würdest wie der Hund, weißt du noch, am Bahnhof. Ich hatte Angst, daß du genauso schlimm stinken würdest und daß die Ratten auch dich angefressen hatten. Ich wollte das nicht sehen, denn du bist mein Freund. Mein einziger wahrer Freund.

1995
Rampur
     
     
     
    Die Fenster standen sperrangelweit offen, und Charlottes Finger flogen über die Tasten. Klavierspielen stoppte das Denken, Grübeln und Brüten. Sie hörte die romantische Musik und befand sich nicht mehr in ihrem Schlafzimmer, sondern tanzte hinaus durch eine Tür, die in einen Himmel voller Klänge führte. Ihre Finger klimperten auf den Rand des Tischchens eine Sonate von Mozart – für Charlotte die Liebessonate –, die Moments musicaux von Schubert, Clair de lune von Debussy und Liebesträume von Liszt, Stück nach Stück spielte sie. Sie kannte sie alle noch auswendig, dachte aber nie an den Tag zurück, an dem sie den Flügel verkauft hatte.
    Sita war auf die Knie gefallen, hatte den Saum von Charlottes Rock gepackt und sie angefleht. Ihr jüngster Sohn Parvat, ein Nachzügler, litt an einer seltsamen Krankheit. Seit Monaten bekam er abends hohes Fieber und erbrach alles, was sie für ihn gekocht hatte. Bis zur Morgendämmerung phantasierte er, erst bei Sonnenaufgang schwand das Fieber, und der Hunger kam. Tagsüber war dem Jungen nichts anzumerken, er spielte mit seinen Freunden oder ging zur Schule, bis es wieder Abend wurde und die Sonne unterging. Innerhalb von fünf Minuten stieg das Fieber lebensgefährlich an, und Sita hielt die ganze Nacht Wache, fest davon überzeugt, daß ihr Sohn den Morgen nicht mehr erlebte. Geld für einen weiteren Arzt hatte sie nicht mehr, deshalb war sie zum großen Haus auf dem Hügel gegangen und hatte um Hilfe gebeten. Charlotte wußte, daß ihr Bankkonto leer war, aber sie kannte den Wert des Flügels. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, rief sie an diesem Tag zum ersten Mal einen Händler an. Noch ehe die Sonne unterging, war das große Instrument aus dem Haus verschwunden, und ein Zauberheiler aus Kalkutta saß neben dem Bett des kleinen Jungen. Am nächsten Tag wurden allerlei Kräuter gebracht, und sämtliche Gegenstände aus Kupfer mußten aus dem Haus entfernt werden. Was er nun genau getan hatte, war Charlotte nie klar geworden, aber zwei Wochen später schlief der Kleine wieder wie früher, und das Leben ging weiter, als ob nichts geschehen wäre. Außer für Charlotte, die sich nicht eingestehen wollte, wie sehr ihr der Flügel fehlte.
    Ein schrilles Geräusch drang an ihr Ohr. Draußen fuhr ein Feuerwehrauto mit seiner herzzerreißenden Sirene vorbei. Das beängstigende Signal erfüllte die Nacht und riß sie aus ihren Träumereien. Besorgt schaute sie aus dem Fenster, ob irgendwo am Horizont ein Feuer zu entdecken war. Das einzige, was sie sah, waren die Leute, die unten am Hügel im gelblichen Licht der Straßenlaterne mit Eimern auf dem Kopf unterwegs waren. Diese Menschen wollten nicht zu dem Brand, sondern hatten wie sie kein Wasser und waren auf der Suche nach Brunnen, in denen noch Wasser zu finden war. Wenn der Monsun nicht bald kommt, sterben wir alle, dachte Charlotte.
    Zum Glück kannte Hema seine Chefin besser als sie sich selbst. Er hatte die Wanne im Bad des Kinderzimmers vollaufen lassen, ebenso die im Bad des Gästezimmers und den Bottich neben der Küche. Charlotte hatte gesagt, sie werde ihre Wanne selbst füllen, weil sie den ganzen Morgen in ihrem Schlafzimmer beschäftigt sei, aber sie hatte es vergessen. Danach hatte Hema seine Sorge über den Wasserverbrauch des Schneiders geäußert, aber der kam, wie sich herausstellte, mit einem Eimer Wasser aus, um sich von Kopf bis Fuß zu waschen; das hatte Hema noch nie geschafft.
    Die Kolonne Eimer tragender Menschen nahm gar kein Ende. Nicht nur das Speicherbecken,

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