Warten auf den Monsun
halbvollem Mund erzählte sie Sita aufgedreht von dem bevorstehenden Fest im Club und berichtete ihr auch beschämt, daß sie vergessen hatte, die Badewanne vollaufen zu lassen. Sie sprach von Hema, der ihr das sehr übelgenommen hatte, von ihrem Vater, der inzwischen nur noch Joghurt essen konnte, aber unbedingt zur Gala des Clubs wollte, von dem platten Fahrradreifen, der noch nicht geflickt war, von dem Pfarrer, der ihr langweilige Bücher aufschwatzen wollte, und von der geplanten Renovierung der Bibliothek, von der Frau von Alok Nath, dem Goldschmied, die immer so leise sprach, daß sie sie nicht verstehen konnte, von dem zerbrochenen Wasserkrug, von dem alten Schneider, der plötzlich verstorben war, von den ständigen Stromausfällen, sie sprach davon, daß das Thermometer sogar oben auf dem Hügel vierundvierzig Grad anzeigte, erzählte von den selbstgebackenen Keksen der Frau von Nikhil Nair, von den Stoffen ihrer Mutter, die sie im Schrank des Kinderzimmers gefunden hatte, von dem wunderbaren Tee, den Hema bereitete, von dem Apfelbaum, dem Jasminstrauch und den Rosen, die nicht verdorrten, von …
»Du bist verliebt«, sagte Sita.
1966
Rampur
Der Dhobi hat vier frisch gewaschene, gebügelte Pyjamas auf dem Tisch in der Eingangshalle zurückgelassen – die wird sie ihrem Vater ins Krankenhaus bringen. Der Mali hat einen kleinen Blumenstrauß danebengelegt. Charlotte weiß, daß ihr Vater keine Blumen im Krankenzimmer haben will, also stellt sie den Strauß in eine Vase neben das Radio, das sie heute schon fünfmal an- und abgestellt hat. Wie die Dienstboten des großen Hauses ist auch sie noch immer fassungslos. Alle Rituale und Gewohnheiten sind seit dem Tag des Unfalls durcheinander. Der Mehtar, der normalerweise von innen nach außen arbeitet, vertut sich immer wieder und fegt den Staub ins Haus hinein, der Punkah-wallah, der ihrem Vater jahrelang wie ein Schatten gefolgt ist, läuft ihr nun ständig nach, weil er sonst niemand hat, dem er Kühlung zufächeln kann, der Koch hat schon dreimal das Essen anbrennen lassen, der alte Chauffeur raucht so viel, daß der Mali gefragt hat, ob er einen Aschenbecher kaufen darf, weil seine Blumenbeete sonst zu sehr verschmutzen. Nur der neue Butler mit dem langen Namen, den sie der Bequemlichkeit halber einfach Hema genannt hat, versieht seine Arbeit akkurat und rennt den ganzen Tag treppauf und treppab, um alle Aufgaben pünktlich zu erledigen, und geht mit seinem Gerenne allen auf die Nerven. Obendrein fühlt Charlotte sich krank. Am Vormittag mußte sie sich schon dreimal übergeben, und wenn sie die Toilette nicht deshalb aufsucht, ist sie dort, weil sie ständig Wasser lassen muss.
»Charlotte?« Im Flur hört sie die Stimme von Sita, die seit Jahren nicht mehr bei ihnen arbeitet, aber zu den unmöglichsten Zeiten hereinschaut.
»Ich komme gleich!« Zu niemand anders würde Charlotte von der Toilette aus gerufen haben, aber zu Sita hat sie eine ganz besondere Beziehung, auch wenn sie sich manchmal wochenlang nicht sehen. Als sie sich verzweifelt auf Peters Grabstein gestürzt hatte, war Sita dagewesen und hatte sie getröstet, so wie sie in Charlottes Kindheit immer für sie dagewesen war. Sita wußte um das diktatorische Verhalten ihres Vaters, die Apathie ihres Bruders, ihren Kummer über Peters Kriegstrauma und ihren unerfüllten Kinderwunsch. Charlotte vertraute ihr oft ihre Sehnsüchte und Zweifel an, und Sita wertete oder verurteilte nie. Sie hörte ihr einfach zu und betete, daß eines Tages alles besser würde.
Sita klopfte an die Toilettentür. »Ist was nicht in Ordnung?«
Charlotte wollte antworten, aber ihr wurde wieder so übel, daß sie nicht sprechen konnte.
»Mach auf.« Sita, daran gewöhnt, volle Windeln zu wechseln und bepinkelte Bettlaken und vollgesabberte Lätze zu waschen, zieht an der Tür, die nicht abgeschlossen ist, und erschrickt, als sie sieht, wie sich Charlotte leichenblaß über die Klosettschüssel beugt. Mit Koseworten aus Charlottes Kinderzeit lockt sie sie ins Schlafzimmer. Sie nimmt ein Handtuch, macht es naß und tupft ihr das verschwitzte Gesicht ab. Sie knöpft Charlottes Bluse auf, die schmutzig geworden ist, und sieht zwei große, dunkle Brustwarzen. Sita, die im nächsten Monat sechsundvierzig wird, hat zwei verheiratete Töchter, die bei den Familien ihrer Männer wohnen, und einen Mann, der vor drei Monaten zu seinem jährlichen Besuch da war; weil er noch immer die Mitgift der Jüngsten
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