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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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erreicht und ebbt langsam ab.
     
    Die Nonne, die eine weiße Schürze über dem Habit trägt und Charlotte an einen Schlächter erinnert, drückt ihr die Knie auseinander und untersucht sie mit den Fingern. Da ist kein Platz, das muss die Nonne auch fühlen, etwas ist im Wege, aber die Frau schiebt die Finger weiter hinein. Charlotte würde am liebsten losbrüllen, die Hand wegtreten, ihre Koffer nehmen und diesen Ort verlassen. Daß es draußen zu schneien angefangen hat, macht ihr nichts aus, sie besitzt jetzt genug warme Socken und Schals. Sita drückt sie sanft aufs Kissen zurück und massiert ihr den Nacken. Charlotte möchte in die zärtliche Hand hineinkriechen, darin verschwinden, es soll endlich vorbei sein. Sie hört die Musik der Sitar. Sie spürt wieder die Finger, die über die Saiten und über ihre Haut glitten, den Mund, der sang und sie küßte, seine Beine, die ihre Knie öffneten, leicht, ohne Widerstand. Sie riecht und schmeckt ihn, aber so sehr sie sich auch anstrengt, an sein Gesicht kann sie sich nicht erinnern.
    »Es ist noch lange nicht soweit«, sagt die Nonne und zieht die Finger heraus.
    »Noch nicht?« stöhnt Charlotte.
    Sita tupft ihr die verschwitzte Stirn mit einem feuchten Tuch ab. »Wenn die Sterne richtig stehen, kommt es.«
    »Welche Sterne? Die Sonne ist noch nicht mal untergegangen!« Sie will Scherze machen und vergessen, als die nächste Welle anrollt.
     
    »Halt!« Charlotte schlägt die Hand der Nonne weg, die wieder gesagt hat, der Muttermund habe sich noch nicht weit genug geöffnet. »Mir reicht’s. Ich will nicht mehr. Ich will nach Hause. Ich will nicht hier sein. Warum bin ich hier? Warum?« Tränen rollen ihr über die Wangen, sie schluchzt, als sich die nächste Welle ankündigt.
    »Atme durch die Nase, laß die Luft in deinen Bauch.« Sita steht hinter ihr und legt die Hände auf Charlottes verschwitzte Schultern. »Halt kurz die Luft an. Mach deinen Bauch stark. Noch ganz kurz. Atme durch den Mund aus.«
    Charlotte versucht die Anweisungen zu befolgen, aber die mächtige Klaue des Schmerzes reißt sie mit. Sie stößt Flüche aus, von denen sie nicht mal wußte, daß sie sie kennt. In ihren Ohren rauscht es. Ihr Mund ist trocken. Daß draußen in der Nacht ein schwerer Schneesturm losbricht, bekommt sie nicht mit. Das Klappern der Fensterläden und das Heulen des Windes sind Teil ihres Kampfes geworden, das Menschenkind, das monatelang in ihr schwamm und strampelte, sicher herauszubringen.
     
    Als die Wehe nachläßt, sinkt Charlotte in Sitas Schoß zurück. Sie schließt die Augen und will schlafen. Warum hat ihr keiner gesagt, daß Gebären ein unfairer Kampf ist, bei dem man den Feind nicht töten, sondern beschützen will, bei dem der Körper sich selbständig macht und nicht mehr auf seinen Besitzer hört, bei dem man Schmerzen spürt, die heftiger und größer sind als die Gipfel des Himalaja? Sie läuft umher, sie setzt sich, steht wieder auf, hockt sich hin, lehnt sich übers Bett. Sie übergibt sich, sie kackt und pinkelt, während Sita sie in den Armen hält. Sie ist tropfnaß und halbnackt. Draußen schwillt der Sturm an, die Sterne sind nicht zu sehen. Die Wehen, die sie jedesmal wieder überfallen, nehmen alle Scham mit sich und werfen sie in eine tiefe, schwarze Schlucht, in der es nichts als Luftholen und Schmerz gibt. Sie kreischt, sie spürt, wie sich der Propf in ihrem Becken senkt, ihre Beine sind weit gespreizt. »Komm!« ruft sie. »Nun komm schon!« Sämtliche Muskeln spannen sich, bis die Wehe wieder genauso schnell verschwindet, wie sie kam, und mit ihr der Schmerz. Sie keucht. Blitzartig durchfährt sie der Gedanke: Das ist wie Krieg. Das ist wie der Schmerz, den Peter erlitten hat. Der Mann, der ihr kein Kind geschenkt hat, weil sein Leid nicht abebbte wie die Wehen und ihn der Schmerz nie verließ, sondern bei jedem Atemzug mehr einschloß. Auf einmal weiß sie, daß die Erniedrigungen und Verletzungen, die er erlitten hat, tausendmal schwerer und schmerzhafter waren als der Kampf, den sie jetzt kämpft.
    Sita und die Nonne verstehen nicht, was geschieht. Charlotte strafft den Rücken, saugt die Luft durch die Nase ein und lächelt. Die Wehe dringt in sie ein, sie begrüßt sie wie einen verlorenen Freund, die stechenden Schmerzen, die vorhin noch unerträglich waren, geben ihr nun Kraft. Sie hört Geschosse pfeifen, Menschen gellend schreien, sie sieht Blut fließen. Ihre Beine zittern und beben. Sie kann sie nicht unter Kontrolle

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