Warten auf den Monsun
Zimmervermieterin in Simla hält sie für ihre persönliche Dienerin. In gewissem Sinne ist das auch so, jeden Morgen, wenn Charlotte im Bad war, massiert Sita ihr den Bauch mit einem Pflanzenextrakt, der gegen Schwangerschaftsstreifen helfen soll. Die ersten Male kitzelte es so, daß Charlotte nur kichern konnte, aber seit sie an die Behandlung gewöhnt ist, überläßt sie sich völlig der Frau, die offenbar alles über das Schwanger-Sein weiß. Das Nasenbluten, das sie gestern abend hatte, scheint dazuzugehören, wie auch die geschwollenen Füße und Knöchel, die plötzlichen Stimmungswechsel, die Tränenausbrüche, die Kopf- und Rückenschmerzen und das Gefühl in ihrem Bauch, wenn sich das kleine Wesen, das in ihr wächst, gerade dann bewegt, wenn sie schlafen gehen will.
»Du wolltest ankommen, bevor es dunkel ist.« Die kleine Frau schließt Charlottes großen Koffer und stellt ihn neben das Bett.
»Sita?«
»Machst du dir wieder Sorgen?«
Charlotte knöpft den Mantel wieder auf und zupft an ihrer Bluse. Ihre angeschwollenen Brüste quellen aus dem viel zu kleinen BH . »Siehst du das?« Sie zeigt auf die feuchten Flecken.
»Das ist Vormilch«, sagt Sita. »Das ist nicht schlimm. Viel Milch sorgt für große Babys. Große Babys sind gesund. Du mußt gut essen. Viel essen«, lacht sie, »sonst hast du nicht genug Milch fürs Baby.«
»Sita?« Charlotte hat schon tausend Fragen gestellt, außer der einen, die ihr durch den Kopf spukt, sie vom Schlafen abhält, sie überfällt, wenn sie endlich für einen Moment vergißt, daß sie schwanger ist, sie zur Verzweiflung treibt und verstört.
»Alles wird gut«, sagt Sita. »Hab keine Angst.«
Charlotte knöpft Bluse und Mantel wieder zu. Sie fürchtet sich nicht vor der Reise in das Kloster hoch oben in den Bergen, nicht vor der Kälte, nicht vor der Geburt oder vor den Schmerzen, sie fürchtet sich vor dem, was danach kommt. Darüber haben sie bisher mit keiner Silbe gesprochen, als würde die Welt aufhören sich zu drehen, wenn das Kind geboren ist, obwohl erst dann alles anfängt.
»Ich helfe dir«, sagt Sita leise. »Das weißt du.«
1967
Manali
Lieber Donald,
mir fehlen beinahe die Worte, um Dir zu beschreiben, wie schön es hier ist. Die Berge sind genauso wie auf den Bildern, die in Vaters Arbeitszimmer hängen, nur noch viel schöner, viel höher, viel majestätischer. Diese Berge sind das Faszinierendste, was ich je gesehen habe. Ich sitze manchmal den ganzen Tag auf der Terrasse und blicke auf die Wolken, die an die Hänge stoßen, auf den Wasserfall, der Tag und Nacht herabprasselt, auf den Adler, der hoch oben seine Kreise zieht, auf die Sonne, die den Schnee auf den Gipfeln bescheint, auf die Mönche in ihren roten Gewändern, die mit leisen Schritten vorbeigehen, auf die Esel, die mit großen Kisten auf dem Rücken den schmalen Pfad hinaufsteigen, auf die Dorfkinder, die im Gras spielen. Du denkst jetzt natürlich, daß ich sehr faul bin, weil ich den ganzen Tag herumsitze, aber ich gehe auch spazieren. Nicht so oft, denn meine Füße machen mir große Probleme. Das geht aber wieder vorbei, hat mir ein Arzt hier gesagt, ich soll einfach alles ruhig angehen lassen und jeden Abend Wechselbäder machen. Deshalb habe ich wieder angefangen zu stricken, was ich seit der Zeit im Internat nicht mehr getan habe. Mein erstes Produkt ist ein Schal. Er ist nicht so schön geworden, wie ich mir das vorgestellt hatte, denn ich habe es ein bißchen verlernt, aber wenn mir der nächste gelingt, schicke ich ihn Dir, Vater braucht in Rampur keinen. Den häßlichen Schal trage ich jetzt selber, weil er schön wärmt. Das Zimmer, das ich gemietet habe, ist einfach, aber gut. Vom Fenster aus blicke ich auf ein Tal, durch das ein kleiner Fluß strömt. Im Frühling wird er sehr groß und wild, wie es scheint, aber so lange werde ich nicht hierbleiben. Es wachsen viele Apfelbäume, die Briten haben sie mitgebracht. Kürzlich bin ich in den alten Teil der Stadt spaziert, und als ich über die Brücke ging, sprach mich ein junger Engländer an und wollte wissen, woher ich käme. Ich erzählte ihm, daß ich in Rampur lebe. Er fragte mich, ob ich glücklich werden wolle. Seltsam, nicht, einen wildfremden Menschen so etwas zu fragen? Ich habe gesagt, daß ich sehr glücklich sei, und bin weitergegangen. Später erfuhr ich dann, wer dieser junge Mann war. Hier wächst eine Pflanze, aus der sie etwas machen, was das »Bewußtsein erweitert«, und das wollte
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