Warten auf den Monsun
er mir verkaufen. Man sieht hier fast keine Europäer, aber die wenigen, die hier sind, kommen anscheinend alle wegen diesem Zeug und nicht wie ich einfach nur, um Urlaub zu machen. Hier ist es wunderbar. Ich esse gut, ich schlafe viel, und wenn mein zweiter Schal besser ausfällt, schicke ich ihn Dir.
Grüße von Deiner Schwester
Charlotte
***
Charlotte sitzt schnaufend in dem großen Sessel beim Fenster. Sie trägt rote, selbstgestrickte Socken, die ihre angeschwollenen Fußgelenke eng umspannen. Sita kniet in einer Zimmerecke und verrichtet ihr Puja. Charlotte, die keine treue Kirchgängerin ist, gäbe etwas darum, in ihren Kopf schauen zu können, um zu erfahren, ob das Gebet ihr tatsächlich Kraft gibt. Ihre Angst vor dem, was kommen wird, nimmt jeden Tag noch zu.
Ihr Bauch ist in den letzten Wochen so groß und rund geworden wie der Globus im Arbeitszimmer ihres Vaters. Jedesmal, wenn sie das Getrampel in sich spürt, muß sie an ihn denken. Zum Glück hat das kleine Wesen in mir keine Stiefel an, denkt sie, und sie sticht die Nadel in das Strickzeug – durchziehen und abheben. Was, wenn es kein Kind ist, sondern ein Ungeheuer, das in mir wächst? Einstechen, durchziehen und abheben. Ein Scheusal mit nur einem Auge und ohne Nase? Ein Kopf mit nichts als ein paar großen, behaarten Füßen, die gleich in ein Paar Stiefel schlüpfen? Einstechen, durchziehen und abheben. Wieder spürt sie einen scharfen Stich im Unterleib. Sita, die noch immer vorgebeugt kniet und leise vor sich hin murmelt, hat ihr vor einer Stunde gesagt, daß das Vorwehen sind, die sie bereitmachen für … wieder ein Stich in den Bauch, nun viel fester und schneidender. Sie stöhnt auf.
Sita hebt die Arme, verbeugt sich noch einmal tief, steht auf und fragt mit fröhlichem Gesicht: »Ist es soweit?«
»Es tut weh«, sagt Charlotte und versucht, die Masche, die sie gerade fallengelassen hat, wieder aufzunehmen.
Sita legt ihre Hand auf Charlottes Bauch. »Es dauert nicht mehr lange. Heute, vielleicht morgen.«
»Morgen!«
»Oder übermogen. Das Baby hat das Sagen, nicht die Mutter. Die Sterne müssen richtig stehen, erst dann kommt es.«
»Au!« Ein wilder Schmerz durchzuckt sie, Charlotte krümmt sich zusammen. »Ruf die Krankenschwester, es geht los!«
»Nein, du hast dein Strickzeug noch nicht fallen gelassen. Du hast noch nicht den großen Schmerz.«
»Sita, bitte!«
»Nein, die Schwester kommt erst, wenn es wirklich soweit ist.«
Charlotte blickt auf das kleine, gelbe Baby-Cape an den Stricknadeln in ihrer Hand. Nach vier Schals – den letzten hat sie ihrem Bruder in England geschickt – hat sie für Sita und sich einen Pullunder gestrickt und für jeden ein Paar Socken. Dann hat sie sich auf das Cape gestürzt. Es lenkt sie ab, weil sie ein kompliziertes Muster gewählt hat. Die gelbe, flauschige Angorawolle hat Sita bei einer Spinnerin in der Altstadt gekauft. Charlotte wollte weder rosa noch blau nehmen, solange sie nicht wußte, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Einstechen, durchziehen und abheben. Wieder durchfährt sie ein Schmerz, er hält diesmal länger an. Sie spürt, wie in ihrem Unterleib etwas reißt, dann strömt Flüssigkeit zwischen ihren Beinen, über den Sessel, auf den Boden. Sie zieht sich an der Fensterbank hoch und schaut auf die Lache, während das Wasser weiter aus ihr sickert. So fest sie auch zukneift, sie kann die Flüssigkeit nicht stoppen.
Sita blickt auf die Lache am Boden und sagt, es sei alles in Ordnung.
»In Ordnung?! Sita, das Wasser fließt heraus! Was bedeutet das? Hol sofort die Schwester!«
»Noch nicht. Nur Geduld. Alles wird gut, warte noch etwas ab. Zieh dir einen trockenen Schlüpfer an.«
»Ich warte schon lange genug. Ich will, daß es losgeht.«
Sita, seit der Schwangerschaft an Charlottes abrupte Stimmungsumschwünge gewöhnt, wischt den Boden trocken und hebt das halb fertige Cape auf, das fast in die Lache mit dem Fruchtwasser gefallen ist.
»Siehst du. Es hat angefangen. Ich habe mein Strickzeug fallen lassen.«
Sita lacht: »Du bist ein raffiniertes Mädchen.«
Wieder rollt eine Schmerzwelle an. Sie beginnt ganz sacht und überwältigt sie dann. Charlotte kann sie nicht stoppen, nicht mildern, ihr nicht ausweichen. Sie stöhnt und schreit. Die Nonne, die sie vor einer Stunde in den Kreißsaal begleitet hat, legt der Gebärenden eine Wärmflasche auf den Bauch und sagt ihr, sie solle ruhig ein- und ausatmen. Der Schmerz hat seinen Höhepunkt
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