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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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fahren.
     
    Der Ventilator dreht sich über ihrem Kopf, die Fenster stehen offen. Sie sehnt sich nach der Kühle der Berge und öffnet den Koffer, den Hema auf ihr Bett gelegt hat. Ganz oben auf ihren Sachen liegt das kleine Baby-Cape aus Angora, das sie gestrickt hat. Ihre Finger streichen über die weiche Wolle. Am liebsten würde sie ins Auto springen und zu Sita fahren, aber sie weiß, daß sie sich beherrschen muß, daß es nicht mehr ihr Kind ist, daß sie keine Mutter sein wird und daß es hier für das Cape viel zu warm ist. Zusammen mit dem Schal, den sie für ihren Vater gestrickt hat, verpackt sie das Angora-Cape in eine Plastiktüte und schiebt das Päckchen auf das oberste Regal im Schrank, so daß sie es nicht mehr sehen kann. Keiner wird die Sachen je tragen. Von draußen hört sie den Lloyds dröhnen und den Mali seufzen, der das Gerät über den Rasen schiebt. Sie wird ihn bitten, Blumen fürs Eßzimmer zu pflücken. Das Haus ist zu still und zu leer. Sie nimmt ihren Füller und ein Blatt Papier und schreibt einen Brief an ihren Bruder.
     
     
    Lieber Donald,
    ich bin wieder zu Hause. Die Monate im Himalaja werde ich nie vergessen. Ich habe eines von Vaters Bildern, auf denen der Mount Everest zu sehen ist, über mein Bett gehängt. So habe ich die wunderbaren Berge immer vor Augen und denke an das grüne Gras auf den Wiesen, an den frischen Wind und den Schnee. Wenn ich einen Sohn hätte, dann würde er »Berg« heißen. Von den Bergen geht eine so überwältigende Kraft aus, nichts auf der Welt ist so schön, so einmalig, so gigantisch. Wenn ich daran denke, muß ich fast weinen. Erinnerst Du Dich noch daran, daß Vater uns verboten hat, zu weinen? Auch, als wir noch ganz klein waren? Wenn ich daran zurückdenke, wird mir erst klar, wie seltsam das war. Ein kleines Kind weint nun mal, einfach weil es Hunger hat oder Bauchdrücken. Du erinnerst Dich wahrscheinlich nicht mehr daran, daß Vater uns, als wir ganz klein waren, im Kinderwagen draußen in den Regen gestellt hat. Bei Dir kam ein Gewitter, und Du hast gar nicht aufgehört zu weinen. Sita durfte nicht bei Dir bleiben. Ich habe dann gesehen, wie sie sich hinter einem Strauch versteckt hat, um so nah wie möglich bei Dir zu sein, ohne daß Vater es sah. Hast Du schon gehört, daß sie einen Sohn bekommen hat? Ich möchte ihr gern etwas schenken. In einer Zeitschrift, die ich auf dem Bahnhof in Neu-Delhi gekauft habe, stand ein Artikel über einen neuen Kinderwagen, der in England erfunden wurde. Er wird »Buggy« genannt. Meinst Du, daß Du in London einen für mich bestellen könntest? Er hat ein leichtes Aluminiumgestell und läßt sich ganz klein zusammenlegen. Die Patentnummer ist 1.154.362. Ich denke, Sita wäre damit überglücklich. Wenn es klappt, verschick ihn am besten per Luftpost, mit dem Schiff dauert es so lange, ich würde ihn ihr gern so bald wie möglich schenken. Du findest hoffentlich Zeit dafür? Geht es Dir ansonsten gut? Vater ist froh, daß ich zurück bin. Die Krankenschwestern auch, glaube ich. Er kann inzwischen schon wieder viel mehr. Das linke Hüftgelenk ist wieder beweglich, und er kann fast selbständig sitzen. Er wird nie mehr laufen können, aber das wußtest Du ja schon, oder? Erst dachte ich, er wäre mir böse, weil ich länger weggeblieben bin, aber darüber hat er kein Wort verloren. Er ist nun fast schon ein Jahr im Krankenhaus und will jetzt, wo ich zurück bin, nach Hause kommen. Kommst Du auch wieder einmal nach Rampur? Ich denke, vorläufig kann ich hier nicht weg, und ich würde Dich so gern einmal wiedersehen.
    Grüße von Deiner Schwester Charlotte
     
    PS : Denkst Du an den Kinderwagen?

1995
Rampur
     
     
     
    Der Kronleuchter war seit Jahren nicht mehr herabgelassen worden, aber nun lag er mitten in der Eingangshalle, wie ein gestrandetes Geisterschiff voller Spinnweben. Hema kniete davor und pulte mit einem kleinen Messer die Hunderte von Kerzenstummeln heraus. Er hatte die Tür zum Klavierzimmer geschlossen, weil er nicht wollte, daß der Schneider ihn bei einer Arbeit sah, die normalerweise ein Lehrjunge erledigte. Mit der Messerspitze stocherte er vorsichtig im Halter, um die Kerzenstummel möglichst heil herauszufummeln. Manche waren noch lang genug, um ein paar Stunden Licht zu geben, andere so weit heruntergebrannt, daß er sie erst würde einschmelzen müssen. Es war zwar in seinen Augen eine niedrige Tätigkeit, aber er war doch froh, über dieser Arbeit ein bißchen zur Ruhe zu

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