Warten auf den Monsun
kommen. Der Schweiß rann ihm über die Augenbrauen, und das Hemd klebte ihm am Rücken. In der Badewanne im Gästezimmer war zwar noch ein bißchen Wasser, aber weil er einen guten Preis aushandeln konnte, hatte er zwölf Kanister mit Trinkwasser den Hügel hochgeschleppt. Morgen würde er Memsahib fragen, ob der Schneider ihm nicht helfen könnte; er zahlte zwar Miete für sein Zimmer, aber als sie sich über den Preis einigten, hatte niemand daran gedacht, daß ihnen das Wasser ausgehen könnte.
Der Fluß, der durch Rampur verlief, war völlig ausgetrocknet. Hema hatte am Morgen Dutzende von Frauen gesehen, die Löcher gruben. Sie hofften, auf Wasser zu stoßen, um sich und ihre Kleider waschen zu können, denn das Wasser, das an der Straße verkauft wurde, war dafür zu teuer. Der Nachrichtensprecher von Radio Rampur hatte nun, anders als der von der BBC , gesagt, der Monsun könne jeden Moment ausbrechen, doch der wolkenlose Himmel erzählte eine andere Geschichte.
Zum fünften Mal war in dieser Woche der Strom ausgefallen, und Charlotte versuchte sich etwas Kühlung zuzufächeln. Den Arm mit dem Fächer zu bewegen, kostete in der erstickenden Mittagshitze so viel Kraft, daß die Minibrise die Anstrengung eigentlich nicht aufwog. Die Fensterläden waren nicht richtig geschlossen, aber sie war zu träge, um sie fest zuzuziehen. Ein haarfeiner Streifen Sonnenlicht bohrte sich in ihr Schlafzimmer und schien auf den Stapel mit den Stoffen. Ihr Vater hatte nicht mehr danach gefragt, und weil es sogar ihm zu heiß war, um sich zu bewegen, verhielt er sich schon seit Tagen ruhig, sogar dann, wenn sein Joghurt und sein Tee nicht pünktlich vor ihm standen. Sie mußte einen Stoff für ihr Kleid aussuchen, aber sie scheute davor zurück, ihn ins Klavierzimmer zu bringen. Den Korken hatte sie so tief in das Loch zurückgesteckt, daß sie ihn nur noch mit einem Korkenzieher herausbekommen könnte. Sie vermied es, an den Schneider zu denken, weil sie Angst hatte, daß ihr die gleichen Gedanken wieder in den Sinn kommen würden, wenn er in der Nähe war. Sie versuchte, den Kopf zu schütteln, um die Grübeleien zu verscheuchen, aber die Hitze war so lähmend, daß sich nicht mal ihr Hals bewegen wollte.
Gedämpft hörte sie von unten das Surren der Nähmaschine. Er schien überhaupt keine Probleme zu haben.
Ganz oben auf dem Stapel lag ein schimmernder, rosafarbener Seidenstoff. Genau die Farbe, in der sie als Kind so gern ein Kleid gehabt hätte, aber man hatte es unsinnig gefunden, wenn sie in den wenigen Wochen im Jahr, an denen kein Schulunterricht stattfand, etwas anderes trug als die triste graue Internatsuniform. Da auch die Frau von Nikhil Nair immer Rosa trug, fiel dieser Stoff schon mal weg, genau wie der in Altrosa, der darunterlag. Die Seide, die dann kam, war violett, wie die Kanzeldecke bei Beerdigungen. Es gab auch etwas in Gelb, das sie sofort mit der Sonne, der drückenden Hitze, dem Schweiß und der stickigen Luft assoziierte. Wie konnte er bei diesen Temperaturen arbeiten? Ein goldfarbener Stoff glänzte zu sehr, den mit der Silberstickerei fand sie zu altjüngferlich, den blauen zu gewöhnlich, den weißen zu jungfräulich, in Schwarz wollte sie nicht aufs Fest, und Grün trug sie schon die meiste Zeit. Rot war zu ordinär, Beige zu langweilig und Braun zu armselig.
Als die Sonne unterging, ließ auch die Leuchtkraft der Farben nach. Sie stand vom Bett auf, trat ans Fenster und stieß die Läden auf, weil sie auf etwas Kühlung hoffte. Der Mond war noch nicht zu sehen. Unten schnurrte die Nähmaschine lustig weiter. Sie konnte sich die Linie seines Profils mühelos vorstellen, die gerade Stirn, die aristokratische Nase, die Lippen und das Kinn … Er hatte etwas Edles, etwas Adliges, dachte sie. Ihre Gedanken schweiften zu Parvat. Sie fragte sich, ob schon einmal irgend jemand, der ihn sah, Zweifel an seiner Herkunft bekommen hatte. Sie nahm einen Stapel Stoffe und ging damit ins Treppenhaus. Die Uhr schlug acht. Ihr Vater wollte nur schlafen, wenn er die Uhr zehn hatte schlagen hören, sonst hätte sie das Ding längst verkauft. Sie brachte auch die anderen Stapel in den Flur. Weil sie sich nicht entscheiden konnte, hatte sie sich überlegt, daß es besser war, wenn er den Stoff aussuchte. Wie gewohnt horchte sie kurz an der Tür des Kinderzimmers. Sie wollte weitergehen, als sie etwas zu hören glaubte. Sie drückte das Ohr ans Holz und lauschte. Es war ein leises Geräusch, das sie nicht
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