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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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er aufgestanden und an den äußersten Rand des Daches getreten. Er hatte den Mund geöffnet und versucht, mit der Luft, die er aus seiner Lunge preßte, einen Klang zu erzeugen, der sich anhören sollte wie das schöne, tiefe Timbre von Meister Chandran. Aber aus seiner Kehle kam ein hohes, schrilles Kreischen, so furchterregend, daß jedes Lebewesen, das es hören konnte, davon hochschreckte. Die Vögel im Geäst, die Hunde auf dem Gehsteig, die Ratten, die Mäuse, sogar die Ameisen und die Käfer. Subhash war erschrocken aufgewacht und hatte gerufen, er solle sich schnell zu ihm legen, weil er einen bösen Geist habe brüllen hören. Madan war zu seiner Matte zurückgekehrt und hatte sich vorgenommen, nie wieder auch nur einen Ton von sich zu geben.
    »Die Rosa oder Rose«, sagt Chandan Chandran leise und nickt zu der roten Blüte in seiner Hand, »erweckt Liebe.«
    Ein Lächeln erscheint auf dem Gesicht des Webers. Er hat nicht den strengen, ernsten Blick wie sonst. Madan streckt die Hand aus, und die Rose rollt hinein. Ob es der Duft ist oder die Farbe der samtzarten Blätter, weiß er nicht, aber er spürt, daß in seinem Herzen etwas geschieht. Er schließt die Augen und erinnert sich an seine Schwester in ihrer blauen Jacke, er spürt die Hände der blonden Frau, die ihn streicheln, und ihren Kuß, er hört freundliche Worte und riecht süße Düfte. Er denkt wieder an Abbas, der in den großen Apfel beißt. Meint der Weber das mit Liebe? Er weiß, daß die Männer in der Weberei auch manchmal über Liebe reden, aber die unterhalten sich dann über Frauen, die Madan noch nie gesehen hat und von denen er nicht einmal weiß, ob sie in der Wirklichkeit oder nur im Kopf der Männer existieren. Als er die Augen wieder öffnet, hat Chandan Chandran die Rose gegen kleine blaue Blumen ausgetauscht, ohne daß Madan es gemerkt hat.
    » Myosotis , oder Vergißmeinnicht, das nimmt man, damit Erinnerungen für immer bleiben.«
    Obwohl es ein kleines, unscheinbares Sträußchen ist, das in seiner Hand liegt, durchströmt ihn unversehens eine Welle des Kummers. Seine Erinnerungen sind fast immer schmerzhaft, doch die Rose hatte ihm Gedanken an die Vergangenheit gebracht, ohne daß er sich verlassen fühlte. Durch die kleinen Blumen in seiner Hand werden all diese Gefühle durcheinandergeworfen, und er sieht wieder vor sich, wie er barfuß zwischen den Beinen der johlenden, jubelnden Männer verlorenging. Die Angst und die Einsamkeit. Die Schmerzen und das Blut. Den Durst und den Hunger. Er riecht an den Blumen, die zu rufen scheinen: »Wir haben es nicht vergessen.« Ob es der Geruch ist, der ihn überwältigt, oder ob es die Erinnerungen sind – Madan merkt, wie alle Kraft aus seinem Körper schwindet, wie die Worte von Herrn Chandran zerfließen, das Karussell von Düften sich ihm aufdrängt, er kann sie nicht mehr unterscheiden, er sieht, wie die Hand von Herrn Chandran auf ihn zukommt, dann dreht sich alles vor seinen Augen.
     
    Er liegt allein auf seinem Teppich. Er hört die Webstühle schnurren, neben seinem Kopf liegen die Vergißmeinnicht.

1967
Himalayan Queen Express
     
     
     
    Sie sitzen sich gegenüber und haben seit der Abfahrt des Zuges kein Wort miteinander geredet. Charlotte blickt auf die vorbeiziehende Landschaft, ohne die erntenden Bauern, die waschenden Frauen und die Berge in der Ferne wahrzunehmen. Sita starrt auf die marmorierte Wand des Abteils, an der sie immer neue Figuren zu entdecken meint – ein Gesicht ohne Augen, eine greifende Hand, eine Frau mit langem, wehendem Haar …
    Alles ist anders gelaufen als verabredet. Die Krankenschwester hatte Charlotte bei ihrem ersten Gespräch im Spital gesagt, das Baby werde gleich nach der Geburt abgeholt, denn es gebe genug junge Paare, die ein Kind adoptieren wollten. Charlotte hatte das Neugeborene nicht sehen wollen, aus Angst, sie könnte es dann nicht hergeben.
     
    Während Charlotte noch mit fest geschlossenen Augen und gespreizten Beinen auf dem Bett lag, hatte Sita den dunkelhäutigen Jungen aus den Händen der Nonne entgegengenommen. Die ehemalige Ayah begriff nicht, wie die perlweiße Frau, die sie in ihren ersten Lebensjahren mehr oder weniger aufgezogen hatte, ein so dunkles Kind gebären konnte. Nachdem die Nabelschnur durchschnitten worden war, war sie mit dem feuchten Bündel Mensch aus dem Zimmer gelaufen, gefolgt von der Nonne, die sagte, sie solle das Kind in Raum vier bringen. Im Flur begann das Baby zu weinen, und Sitas Brüste

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