Warten auf den Monsun
Stimme hallt durch die Werkstatt.
Nur bei Madans Tisch brennt noch Licht.
»Mukka, wo bist du?«
Madan kriecht unter seinem Tisch hervor.
»Probleme mit der Maschine?« fragt der Doktor.
Madan schüttelt den Kopf.
»Weißt du, wo die neue Schere ist, die ich vor einer Woche gekauft habe?«
Madan hat die Schere auch schon vermißt und zieht besorgt Schultern und Augenbrauen hoch.
»Sie muß hier sein.«
Madan weiß, daß die Schere nicht da ist, er hat überall gesucht, sogar unter seinem Tisch.
»Ich habe das Gefühl«, sagt Dr. Krishna Kumar mit ernstem Gesicht, »daß in letzter Zeit Sachen aus meiner Werkstatt verschwinden. Ich weiß genau, daß ich einen langen grünen und einen kurzen gelben Reißverschluß hatte, und die sind auch weg.«
Madan, der seit eineinhalb Jahren auch den Vorratsschrank verwaltet, vermißt noch viel mehr, eine neue Schachtel Sicherheitsnadeln, ein Kopierrädchen, einen Nahttrenner, das Päckchen Stopfnadeln, einen Fingerhut, eine Rolle Gummilitze, Goldborte, eine Tüte mit roten Knöpfen, und aus dem Behälter mit den Druckknöpfen sind etliche verschwunden; am schlimmsten aber ist, daß ihm ein Ballen weißen Baumwollstoffs fehlt.
Dr. Krishna Kumar sieht Madan an, der unter dem strengen Blick seines Chefs nervös wird.
»Find es heraus«, sagt er und stiefelt aus der Werkstatt.
Madan ahnt vage, wo die Sachen sein könnten, aber er betet schon seit Tagen, daß es nicht wahr ist und daß es niemand merkt.
Er kann in dieser Nacht kaum schlafen; wenn er endlich eindöst, träumt er von zwei Frauenarmen, die ihn streicheln und umschlingen, um sich dann plötzlich in eine Würgeschlange zu verwandeln, die ihm die Luft abdrückt. Er schreckt aus dem Schlaf hoch und merkt, daß er eine Erektion hat.
Am Ende des Arbeitstages muß jeder seinen Tisch aufräumen, auf dem Fußboden Ordnung schaffen und den Bereich um seinen Platz fegen. Madan hat dem Mann, der neben seinem Zuschneidetisch an der Nähmaschine sitzt, deutlich gemacht, daß er eher weg muß, und ihn gebeten, die Werkstatt abzuschließen und Dr. Krishna Kumar den Schlüssel zu geben.
Er, der Hinterhältige, beobachtet versteckt hinter der Mauer, wie die Männer einer nach dem anderen nach Hause gehen, und als das Mädchen herauskommt, beginnt er, der Verliebte, zu schwitzen. Seit dem Moment, als sich ihre Augen gefunden haben, finden sich ihre Blicke oft, heimlich, wenn es niemand sieht, oder sie gehen langsamer als nötig aneinander vorbei. In seinen Träumen hat er, der Begehrende, sie lieb, und sie haben sich endlos viel zu erzählen. Seit Wochen denkt er, der Behinderte, darüber nach, wie er, der Trottel, sich ihr nähern könnte, er, die Waise, hat keinen Vater, Onkel oder Bruder, der zu ihrer Familie gehen könnte, und er, der Hörige, traut sich nicht, Dr. Krishna Kumar darum zu bitten, denn welcher Vater gibt seine Tochter einem Mann ohne Hintergrund zur Frau, ohne Angehörige und – folglich – ohne Sicherheit? Sie merkt nicht, daß er, der Nichtswürdige, ihr folgt, immer wieder verschwindet sie in der Menschenmenge, und er, der Sippenlose, sieht nur noch flatternde Zipfel des Saris. Er, der Schmachtende, hat oft geträumt, dies zu tun. Er, der Kastenlose, weiß nicht, wo sie wohnt. Dr. Krishna Kumar hat es ihm nie gesagt, und er, der Feigling, hat es nie gewagt, sie danach zu fragen. Sie biegt in die Straße mit dem kleinen Markt ein und kauft an einem Stand etwas Gemüse. Er, der Nicht-Existierende, sieht, daß sie feilscht, und das Gesicht des Händlers sagt ihm, dem heimlichen Beobachter, daß sie öfter hier einkauft. Mit dem Gemüse unterm Arm geht sie in eine kleine Gasse, die er, der Verfolger, noch nie gesehen hat. Die Gasse mündet in eine belebte Straße, und er, der Ängstliche, ist froh, daß er, der Unsichtbare, wieder im Menschengewühl untertauchen kann. Sie geht nicht schnell. Spürt sie vielleicht, daß er, der Spion, ihr folgt? Könnte er, der Zerknirschte, nur zurückgehen zu seinem Zimmer am Innenhof! Er, der Aussichtslose, wünscht sich, daß er, der Tyrann, nie der Verwalter des Vorratsschranks geworden wäre. Es war der erste Schlüssel, den er, der Besitzlose, in seinem Leben besessen hatte. Am liebsten würde er, der Bewacher, den Schlüssel ins Meer werfen. In das Meer, aus dem die Sonne aufgeht, und nicht, wie in Bombay, das Meer, in dem sie untergeht. Er, der Verlorene, möchte zwischen den Straßensteinen versinken, er, der Verlorene, will sie nicht verfolgen, er,
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