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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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Indien einen Krug Wasser. Sie stieg die Treppe hinauf, die Hitze hatte wieder beharrlich den Weg ins Haus gefunden, und die Bluse klebte ihr am Rücken. Sie nahm den Schlüssel vom Nagel und ging ins Kinderzimmer.
    Ihr Vater saß in seinem Rollstuhl, auch ihm lief der Schweiß übers Gesicht. Er sah sie streng an. »Was willst du?«
    »Ist hier irgendwo Toilettenpapier?«
    Der General begann zu seufzen und zu stöhnen. Charlotte ging ins Badezimmer und durchsuchte die Schränke. Sie hörte, wie ihr Vater in seine Windel kackte. Warum hatte ihr Bruder nicht geschrieben, daß seine Tochter kam, oder angerufen? Wie lange wollte das Mädchen bleiben? Was sollte sie ihr zu essen vorsetzen? War noch etwas im Haus oder mußte sie Hema zum Markt schicken? Hoffentlich wollte das Mädchen kein Weißbrot essen – das war so schrecklich teuer. Am liebsten wäre sie in das Schränkchen unterm Waschbecken gekrochen und hätte sich versteckt, wie sie es früher als Kind getan hatte, wenn Sita sie ins Bett bringen wollte. Plötzlich fiel ihr Blick auf die goldene Uhr ihres Vaters, die auf dem Waschtisch lag. Hema mußte sie nach dem Waschen vergessen haben, denn sie hing normalerweise an der Wand, wo ihr Vater sie vom Rollstuhl aus sehen konnte. Was war sie wohl wert? Sie wog sie in der Hand, sie war schwer, und ließ sie in die Tasche ihres Rocks gleiten. Aus der Eingangshalle tönte es wieder: »Tante Charlotte!«
     
    Madan versuchte, sich auf die Brustnaht der Bluse zu konzentrieren, die er für die Frau des Kokosölfabrikanten nähte, aber die Rufe des Mädchens lenkten ihn ab. Etwas an ihr erinnerte ihn an jemanden, doch er wußte nicht, an wen. Es waren nicht die ungekämmten Haare oder die lockeren Manieren, europäische Hippiemädchen hatte er schon öfter gesehen, nein, es war etwas anderes. Er drehte am Rad der Nähmaschine. Das summende Geräusch wirkte auf ihn beruhigend. Wenn das Mädchen nicht aufgetaucht wäre, hätten sie sich dann geküßt, fragte er sich, und er stellte fest, daß er die Naht zum dritten Mal falsch angesetzt hatte. Er zog das seidene Kleidungsstück unter der Maschine weg und geriet plötzlich ins Zweifeln, ob Dunkelviolett wirklich die richtige Farbe war für die korpulente Frau; selbst nachdem er den Kragen mit der Schale einer reifen Mango behandelt hatte, hatte das Kleid nicht die anmutige Ausstrahlung bekommen, die er ihm geben wollte. Wenn sie sich geküßt hätten, würde er dann noch hier sitzen oder wäre wieder alles in sich zusammengestürzt? Mit großer Sorgfalt zog er den Faden aus dem Stoff, doch die Löcher der Nähnadel waren trotzdem zu sehen. Würde er, wenn sie sich geküßt hätten, nun auf seinem Fahrrad sitzen, mit der Nähmaschine auf dem Gepäckträger? Er füllte die Spule von neuem, die Spule, die er von dem ersten Geld gekauft hatte, das er sich in Haidarabad zusammengebettelt hatte. Oder hätte sie sich zu ihm gesetzt, und er hätte nun an ihrem Kleid gearbeitet? Er steckte die Spule wieder in die Maschine, versetzte das Rad in Schwung und versuchte ein weiteres Mal, die Büstenlinie so zu formen, daß der verwelkte Busen der Frau des Kokosölfabrikanten wieder prangen konnte.
    »Hi.« Issy kam ins Klavierzimmer, sie trug wieder ihre blaue Jacke und darunter deutlich nichts. »Hast du Zeit, auch für mich was zu nähen?« Sie wühlte in dem Stapel, den Madan auf den Tisch gelegt hatte. »Was für irre Farben, hast du die Stoffe hier gekauft? Ich hätte in Neu-Delhi gar nicht erst zu gucken brauchen, da hatten sie echt nichts, ich kapier nicht, warum das in den Reiseführern steht, als ob man da so tolle Sachen kaufen könnte.« Sie zog die scharlachrote Seide heraus. »Die hier will ich«, sagte sie und sah Madan fragend an, der keine Reaktion zeigte, weil er gleich gesehen hatte, welcher Stoff es war. »Das geht doch, oder? Du hast ja noch ganz viel andere Rottöne.« Sie warf den Stoff zurück auf den Tisch, ging zum Fenster und schob den Vorhang beiseite. »Warum hockt ihr hier eigentlich alle im Dunkeln? Das ist doch total schlecht für die Augen! Du willst doch nicht blind werden oder was? Und wenn du das Fenster aufmachst, kommt wenigstens ein bißchen frische Luft rein.« Sie öffnete das Fenster und schlug die Läden auf, das gleißende Sonnenlicht flutete ins Zimmer. Sie blinzelte. Eine erstickende Hitzewelle rollte herein. »Du meine Güte, wie könnt ihr nur hier leben? Jetzt wird mir klar, warum Papa nach England gegangen ist. Das ist echt nicht normal, und

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