Warten auf den Monsun
unbeirrt weiter. Sie sitzt neben der Tür auf einer Matte und muß an jedem Kleidungsstück die Nähte säubern, bevor es die Werkstatt verläßt. Außer der betagten Büglerin im Flur gibt es sonst keine Frauen im Betrieb. Madan verschneidet den Stoff, aus dem er eine neue Kurta für den Sekretär des Tennisclubs nähen soll, und vergißt, daß er den Lehrling losschicken muß, Nadeln zu kaufen. Immer wieder schweift sein Blick in die Ecke, wo die junge Frau mit den langen Zöpfen jedes Kleidungsstück, das auf den Stapel gelegt wird, auf links zieht, akribisch mustert und lose Fädchen vernäht oder abschneidet. Wenn er die Kurta nicht verschnitten hätte, hätte er viel eher zu ihr hingehen können, aber erst als es Zeit für den Lunch ist, ist er fertig. Er faltet die hellgraue Kurta ordentlich zusammen und geht zu der Ecke, mit dem Gefühl, daß ihn alle dabei beobachten. Das ist auch so, aber nicht, weil er zu dem Mädchen geht, sondern weil sie Hunger haben. Als er gerade im Begriff ist, das Kleidungsstück auf den Stapel des Mädchens zu legen, fällt ihm ein, daß die Lunchpause angefangen hat, und er dreht sich um und hebt die Hand. Die Männer an den Nähmaschinen springen auf und verlassen, angeregt schwatzend, in Windeseile die Werkstatt. Das Mädchen bleibt sitzen und blickt nicht von der Arbeit auf. Madan legt die Kurta zögernd auf den Stapel neben ihr. Er tritt von einem Fuß auf den andern, aber das Mädchen arbeitet weiter. Es ist Lunchzeit, würde er gern sagen, du kannst essen gehen. Sie zieht eine Nadel durch den Stoff. Warum sieht sie nicht auf? Sie beißt den Faden durch. Sie sieht doch wohl, daß ich hier stehe. Sie zieht das Kleidungsstück wieder auf rechts und überprüft ihre Arbeit. Jetzt guck doch mal hoch! Das Mädchen blickt hoch. Als sie merkt, daß Madan sie ansieht, schlägt sie gleich wieder die Augen nieder. Sie bleibt still sitzen. Hat sie keinen Hunger? Das Mädchen nimmt die Kurta vom Stapel und dreht sie auf links. Will sie nicht essen? Ihre Finger fahren über die Nähte, die Madan gerade genäht hat. Beim Ellbogen, genau da, wo Madan sich beim Zuschneiden vertan hat, stockt ihr Finger. Sie sieht es. Dann gleitet ihr Finger weiter, bis sie unten am Saum ein loses Fädchen findet, das sie abschneidet. Wie schön sie ist. Ihr Finger fahren am Saum entlang, wieder nach oben zum Hals. Ob sie wohl auch schon vergeben ist? Madan, als Waisenkind von der Straße, denkt manchmal mit Neid an seine Kollegen, deren Familien oft jahrelang damit beschäftigt sind, geeignete Heiratskandidatinnen für ihre Söhne zu finden. Mit seinem Gebrechen hat er wenig Chancen, nicht mal als Leiter der Schneiderwerkstatt von Dr. Krishna Kumar.
Das Mädchen blickt auf. Madan läuft rot an, dreht sich um und geht wieder zu seiner Nähmaschine. Er hat keinen Hunger. Er hat keine Lust, eine Pause zu machen. Er will nicht hören, was die Männer zu erzählen haben über ihre Kinder, ihre nervigen Frauen, ihre herrschsüchtigen Schwiegermütter, ihre viel zu beengte Behausung und die Kosten für die Schule und die Lebensmittel. Er möchte nur einen Menschen finden, der ihn liebt.
Er hat sie nicht kommen hören, plötzlich steht sie neben ihm. Den Blick schüchtern gesenkt und in der Hand eine leere Garnrolle. Er deutet auf den Schrank mit dem Nähgarn. Das Mädchen bleibt stehen, dreht die hölzerne Garnrolle in den Händen.
Soll ich es für dich aufwickeln?
Er streckt die Hand aus, und das Mädchen gibt ihm die Garnrolle. Er geht zu dem großen Holzschrank. Draußen auf dem Innenhof, unter dem großen Banyanbaum, hört er die Männer lachen. Das Mädchen steht neben ihm, und obwohl sie den Kopf gesenkt hat, spürt er die Spannung, die von ihr ausgeht. Ganz langsam und exakt wickelt er das Garn auf die Rolle. Die Regel von Dr. Krishna Kumar: Nimm nie zu viel Garn und benutze nur deine eigene Spule, gilt nicht für das Mädchen, denn sie näht mit Nadel und Faden und wird nie an einer der Nähmaschinen sitzen dürfen. Er gibt ihr die Garnrolle zurück. Sie senkt den Kopf noch mehr und geht wieder an ihren Platz, wo sie sich das nächste Kleidungsstück vornimmt. Auch Madan geht wieder zu seinem Arbeitsplatz. Er wünscht sich, daß sie alle frei hätten, nicht bis heute abend acht Uhr arbeiten müßten, und daß er wüßte, wo das Mädchen wohnt. Sein Blick wandert von den stillstehenden Maschinen zu ihr. Er sieht, daß sie schnell die Augen niederschlägt.
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»Mukka!« Dr. Krishna Kumars
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