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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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muß, und zeigte ihm, wie man einen Ärmel näht oder einen Besatz anbringt. Daß Madan eine Begabung für den Umgang mit Textilien hat, war dem Doktor schon am ersten Tag klar gewesen, aber daß er ein so großes Talent zum Schneidern besitzt, war eine Überraschung. Monat für Monat dachte sich der Doktor immer schwierigere Aufgaben aus, als wollte er dem Jungen Fallen stellen.
    An diesem Morgen wirft ihm der Doktor einen grauen Baumwollstoff auf den Tisch. Madan, der schon seit zwei Monaten nicht mehr von unruhigen Träumen und einem fordernden Geschlecht geweckt worden ist, wartet voller Spannung auf seinen Auftrag. Je länger er hier arbeitet, um so glücklicher fühlt er sich. In dem Raum vom ersten Tag war er nie wieder, doch er geht selten aus dem Haus, weil er sich von früh bis spät auf die Stoffe und Schnittmuster stürzt, zur großen Freude des Doktors.
    »Heute haben wir Besuch«, sagt Dr. Krishna Kumar mit einem breiten Lächeln im Gesicht. »Ich möchte, daß du diesem Mann eine Jacke nähst, die wie angegossen sitzt.«
    Es kommt öfter vor, daß der Doktor ihm jemanden bringt, für den Madan ein Kleidungsstück schneidern soll. Meist handelt es sich um Herren aus seinem Club oder deren Ehefrauen. Madan hat auch für fast alle Nachbarn und Angehörigen des Doktors aufwendige Kleidungsstücke genäht. Madan blickt zur Tür, er hört im Gang ein Schlurfen und ein schweres Seufzen. Ihm stockt kurz der Atem, als er sieht, wer der Gast ist. Der Hals des Mannes sitzt da, wo andere Menschen den Brustkorb haben, und wo normalerweise der Kopf sein müßte, ragt ein spitzer, behaarter Buckel auf, der bei jedem Schritt leicht zittert. Das Gesicht ist mit Pockennarben übersät, und die Hände, die schlaff neben dem Körper hängen, berühren fast den Fußboden, und da die Schultern schief sind, muß der Mann die eine Hand zur Faust ballen, damit sie nicht über den Boden schleift. Der Mann hält den Blick gesenkt. Auf seinem zerrissenen Hemd kleben noch Krümel von der Mahlzeit, die ihm der Doktor wahrscheinlich spendiert hat, um ihn hereinzulocken.
    »Ich dachte, das könnte eine gute Aufgabe für heute sein.« Dr. Krishna Kumar dreht den Mann um, als sei er eine Schneiderpuppe, und der Bettler läßt es sich fügsam, wenn auch mit sichtlichem Unbehagen, gefallen.
    Obwohl Madan zu einem gutaussehenden jungen Mann herangewachsen ist, empfindet er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder das Gefühl von Scham, das ein körperlicher Makel mit sich bringt. Bevor er mit einer Geste antworten kann, ist Dr. Krishna Kumar verschwunden, und der Mann, der nach Urin riecht, steht verlegen neben ihm. Das stöhnende Seufzen des Bettlers hat die Stille in der Werkstatt abgelöst, und es fällt Madan schwer, den Blick von dem zitternden Buckel abzuwenden. Er will zum Meterband greifen, aber überlegt sich dann, daß der Mann es wahrscheinlich schrecklich finden wird, wenn jemand seinen Körper berührt und die Wucherungen, die er sich auch nicht ausgesucht hat, vermißt. Der Mann starrt verlegen auf den Boden, Madans Blicke wandern über den mißgestalteten Körper. Obwohl der Kopf am falschen Platz sitzt, hat er sehr schöne Ohren, und die Augenbrauen strahlen Kraft aus. Madan entdeckt, daß die Arme sehr lang sind, aber auch muskulös, und daß die Beine und Füße des Mannes kerzengerade stehen. Er schiebt den grauen Stoff, den Dr. Krishna Kumar mitgebracht hat, zur Seite und greift zu einem Stück ockerfarbenen Leinen, das unter seinem Tisch liegt. Während die anderen Angestellten nach und nach eintreffen und – nachdem sie einen neugierigen Blick auf Madan und den Bettler gewofen haben – ihren Platz an den Nähmaschinen einnehmen, geht Madan um den Mann herum und versucht, die Form des Körpers zu verstehen. Dann stellt er sich an seinen Tisch, breitet den Stoff aus und bringt vorsichtig einen Kreidestrich an. Immer wieder schaut er hin, wischt etwas weg und setzt einen neuen Strich.
    Der Mann, der, als die anderen Schneider hereinkamen, nervös mit den Füßen gescharrt hatte, bekommt von Madan ein Zeichen, daß er sich hinsetzen darf. Der Bettler merkt, daß ihn der Schneider mit einem ganz anderen Blick anschaut als die Leute auf der Straße. In seinen Augen liest er weder Abscheu noch Verwunderung. Jedesmal, wenn er vom Zuschneiden oder Abstecken aufblickt, mustert Madan ihn. Dann scheint es, als habe der Schneider ihn vergessen, er stürzt an die Nähmaschine, sein Fuß tritt das Pedal, der Stoff gleitet immer

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