Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
Vom Netzwerk:
schneller durch die Maschine. Der Bettler sieht den Schneider seufzen, verzweifelt dreinblicken, den Stoff wenden, Nähte auftrennen und Stücke neu zusammennähen.
     
    »Na?« tönt Dr. Krishna Kumars Stimme schon von weitem. »Fertig?«
    Der Doktor geht an den Nähmaschinen der anderen vorbei, erteilt hier und da eine Anweisung und sieht dann, daß Madan einen Knopf an eine ockerfarbene Jacke näht.
    »Warum hast du nicht den Stoff genommen, den ich dir gegeben habe?« fragt der Doktor.
    Madan reicht ihm die Jacke.
    Der Bucklige schaut neugierig auf den kahlköpfigen Mann, der das Kleidungsstück auf Armlänge vor sich hält und inspiziert.
    »Ich habe mich ja wohl klar ausgedrückt«, sagt der Doktor streng, während er die Jacke wendet. »Ich habe gesagt, du sollst eine Jacke nähen, die ihm wie angegossen paßt.« Er zeigt auf den Bettler, der sofort den Kopf einzieht und ängstlich abwartet, was nun passiert.
    Madan nickt.
    »Aber das ist eine ganz normale Jacke, ohne Platz für den Buckel.«
    Wieder nickt Madan. Er nimmt dem Doktor die Jacke aus der Hand und reicht sie dem Mann, der nicht weiß, ob er sie nun nehmen soll oder nicht. Erst als der kahlköpfige Mann ihm streng zunickt, wagt der Bettler es, die Jacke entgegenzunehmen und anzuziehen. Er versucht sie zuzuknöpfen, aber der behaarte Buckel wird unangenehm an den Nacken gedrückt und ragt noch mehr über den Kopf hinaus als zuvor.
    Der Doktor knurrt unzufrieden. Er versteht nicht, wie sein talentvoller Lehrling ein so mißratenes Teil fabrizieren konnte. Er war davon überzeugt, daß der junge Schneider auch eine so vertrackte Aufgabe lösen könne, aber das Gegenteil ist der Fall.
    Madan, der den Mann bisher nicht berührt hat, sieht das Gewurstel mit dem Kragen und den Knöpfen und tritt auf ihn zu. Mit leichter Hand zieht er den Stoff über den Buckel und richtet den Kragen.
    Dr. Krishna Kumar traut seinen Augen nicht. Er hat in seinem Leben schon viel Außergewöhnliches gesehen. In Kerala, wo er einmal mit einer Reisegruppe war, konnte ein Fakir die Nägel des Nagelbretts durch seine Beine hindurchgleiten lassen. Und in einem heiligen Tempel hat er einen Asketen gesehen, an dessen Geschlecht ein gut und gern zwanzig Kilo schwerer Stein hing, während der Mann meditierte. Feuerschluckende Yogis, heilige Männer, die Schlangen beschwören können … Alles sensationelle Leistungen, die seine Bewunderung geweckt hatten, aber völlig verblassen bei dem, was er nun erlebt. Wie die von allen Seiten herbeiströmenden anderen Schneider sieht er, daß der Buckel, der gerade noch so nachdrücklich vorhanden war, verschwunden ist, und der Kopf, der wie eine seltsame Ausstülpung an der Vorderseite hing, sieht ihn nun freundlich an. Dr. Krishna Kumar fällt auf, daß der Mann sehr schöne Ohren und kräftige Augenbrauen hat, etwas, worauf er immer achtet. Der Doktor, sonst nie um Worte verlegen, bringt keine Silbe hervor. Er starrt den Mann an, und als der ihm zulächelt, lächelt er verlegen zurück. Er weiß nicht, ob er lieber im Boden versinken oder in euphorische Gesänge ausbrechen möchte. Der Bettler, den er als ein mißgebildetes Geschöpf vom Bahnhof hierhergeschleppt hat, dem er auf dem Fußboden neben der Toilette einen Teller mit Essen hatte hinstellen lassen, steht vor ihm wie einer seiner Kameraden aus dem Club.
    »Er hat kein einziges Mal Maß genommen«, stammelt einer der anderen Schneider.

1973
Madras
     
     
     
    Daß sich innerhalb einer Sekunde alles ändern konnte, hatte Madan schon mehrmals erlebt, aber diesmal war es eine Wende zum Guten. Nachdem er die Jacke für den Bettler geschneidert hatte, war er befördert worden; von da an stand er am großen Zuschneidetisch und verteilte die Arbeit. Im Laufe der Jahre lernen seine Kollegen ihn zu verstehen. Madan redet mit Blicken und Gesten und sagt jedem, was mit dem Stoff und dem Kleidungsstück geschehen soll. Nur wenn ein neuer Mitarbeiter eingestellt wird, muß der sich erst an den stummen Schneider gewöhnen, der die Werkstatt leitet. Madan genießt das Ansehen und die Stellung, die er sich erobert hat, und wird nur noch selten von beunruhigenden Träumen geplagt.
    Bis er eines Morgens, der Monsun ist gerade vorbei und die Luft klar und frisch, die Fenster der Werkstatt stehen offen und eine leichte Brise streichelt die sich abrackernden Körper, in die Augen des Mädchens blickt, das seit zwei Monaten bei ihnen arbeitet. Er ist wie vom Blitz getroffen. Das Mädchen arbeitet

Weitere Kostenlose Bücher