Warten auf den Monsun
etwas für ihn kochen, etwas, was ihm auch schmeckte, sie konnte leckere Toast-Sandwiches machen, vielleicht freute er sich, wenn sie ihm aus einem Buch oder einer Zeitung vorlas, sie konnte den Schneider darum bitten, ihm eine Hose zu nähen, und sie würde ihm die Haare kämmen, alte Leute, die vergeßlich sind, haben oft Freude daran, Kinderlieder zu singen, oder sie würde ihm Witze erzählen und ihn zum Lachen bringen. Sie war ihrem Opa vorher nie begegnet und kannte ihn nur von Fotos. Sie hatte ihn sich immer als großen, starken Mann vorgestellt. Ihr Vater hatte ihr erzählt, daß er im Krieg Heldentaten im Dschungel von Birma vollbracht und dafür wichtige Orden bekommen hatte, daß er eine Lammkeule von drei Kilo allein verputzen konnte und dazu in aller Ruhe eine ganze Flasche Whisky trank, ohne hinterher betrunken zu sein, daß er immer in schwarzen Stiefeln umherging, die man im ganzen Haus hören konnte, daß alle Hausangestellten, ihr Vater sprach von ungefähr vierzig Leuten, Angst vor ihm hatten und daß er in seinem ganzen Leben noch nie eine Träne geweint hatte.
»Opa?«
Er zog den Sauger aus dem Mund. »Ja?«
»Hast du die Tiere geschossen?« Sie deutete auf die Wand hinter ihm.
Er blickte sich erstaunt um. Sie merkte, daß er in seinen Erinnerungen kramte, aber nichts fand. Er zuckte verlegen mit den Schultern.
»Magst du es, wenn ich dir etwas vorlese?«
»Sie haben mir meine Brille weggenommen.«
»Wer?«
»Sie.« Er zeigte auf die Wand gegenüber.
Issy folgte seinem Finger, sah aber nur einen großen Nagel.
»Sie, sie, sie …« Plötzlich geriet er in Panik. Verzweifelt suchte er nach Worten. »Sie hahaha … sie haben …«
»Was, Opa? Was ist denn?«
Er begann schrecklich zu zittern, und sein Kopf schlug hin und her.
Issy legte ihre Hand vorsichtig auf seine Schulter. Sie erschrak, denn seine feuchte Haut fühlte sich nicht warm, sondern kalt an.
Er schnappte nach Luft, und ehe sie registrieren konnte, was geschah, bekam sie einen harten Schlag in den Unterleib.
Mit einem Schrei sprang sie zurück. »Aua!«
»Du! Du hast sie!« Seine Unterarme fuchtelten wild, die Flasche segelte durchs Zimmer und knallte gegen den großen Schrank. »Du hast sie gestohlen! Du bist um kein Haar besser. Gemeine Betrügerin! Eine Diebin bist du! Eine hinterhältige Ratte. Freundlichkeit vortäuschen, rumschleimen und dabei heimlich zugreifen. Ich hab’s aber gesehen! Ich bin nicht blöd! Das hättet ihr wohl gern. Ihr raubt mir alles, was ich habe. Nicht mal mehr eine Hose besitze ich!« Er suchte nach etwas anderem, womit er werfen konnte, aber aus gutem Grund befand sich, abgesehen vom Topf, nichts in seiner Reichweite. Er griff nach der metallenen Bettschüssel, schmiß sie nach dem Mädchen und spie ihr die Worte ins Gesicht: »Gib sie mir wieder! Ich will sie wiederhaben!«
Der leere Topf fiel scheppernd zu Boden. Issy war völlig verängstigt und wußte sich keinen Rat.
»Hexe, Luder, Schlampe, Miststück, Hure!«
Die Tür flog auf, und Charlotte stürmte herein. Sie erschrak, als sie Issy sah, die kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Sie hob die Plastikflasche vom Boden auf, wischte mit einer automatischen Handbewegung den Sauger ab und ging auf ihren Vater zu. »Jetzt beruhig dich doch, ganz ruhig, alles wird wieder gut.«
»Sie hat meine Uhr gestohlen!« schluchzte er und zeigte auf Issy. »Meine Armbanduhr!«
»Nein, Vater, das hat sie nicht.«
»Wo ist sie dann?« Er zeigte auf den leeren Nagel an der Wand. »Sie ist weg.«
»Nein, hier ist sie.« Charlotte öffnete ihre Hand und zeigte ihm die große goldene Armbanduhr. »Sie lag noch im Badezimmer.«
Issy blickte von ihrer Tante zur Tür des Badezimmers und dann wieder auf die Uhr in ihrer Hand. Sie wunderte sich, wo die Uhr plötzlich herkam – jedenfalls nicht aus dem Badezimmer, das wußte sie genau.
Der alte Mann im Rollstuhl begann zu weinen, und Charlotte hängte die Uhr an den Nagel an der Wand. »Guck, alles ist wieder gut.«
Die Tränen rannen ihm über die Wangen, und sie steckte ihm den Sauger wieder in den Mund.
»Sitzt du bequem?«
Charlotte nahm ein Tuch und wischte ihm die Tränen und Schweißtropfen vom Gesicht. Dann tupfte sie seine Stirn ab, die Schultern, die Brust und die Beine. Ihr Finger glitt über die Lederriemen, und sie prüfte, ob sie nicht zu stramm saßen. Zwischendurch blickte sie über die Schulter zu Issy hin, die ihr schweigend zusah – ihre Tante, die sie soeben noch der
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