Warten auf den Monsun
Mörder in einem Ledersessel saß, auf dem Schoß das geladene Gewehr, aber der Mann, den sie nun erblickte, war fast nackt und hatte große Narben. Er saß in einem Rollstuhl, um die Unterschenkel und die Oberarme hatte er Ledergurte, und in der Hand hielt er eine Trinkflasche mit einem Sauger. Der Mann blinzelte, das plötzliche Licht machte ihm zu schaffen. An den Wänden ringsum hingen Köpfe toter Tiere.
»Mathilda?« Die Stimme des Mannes klang unsicher.
»Ich heiße Issy.«
»Nicht Mathilda?« Er starrte sie an.
»Nein, ich bin Issy. Issy Bridgwater.«
»Bridgwater! Du bist eine Bridgwater?«
»Ja.«
»Victor Bridgwater, Oberstleutnant des vierzehnten Regiments, siebtes Bataillon.« Er straffte den Rücken. Sie sah, daß die Ledergurte seine Bewegungsfreiheit einschränkten, aber Unterarme und Hände konnte er frei bewegen.
»Ich glaube, ich bin deine Enkelin«, sagte sie zögernd, denn sie konnte sich kaum vorstellen, daß dieser seltsame Mann tatsächlich ihr Großvater war.
»Alle Kinder sind tot.«
»Aber ich nicht.«
»Du bist kein Kind.«
»Nein, das stimmt, ich bin neunzehn.«
Der General sah sie ungläubig an.
»Schon seit vier Wochen«, sagte sie nachdrücklich.
»Was machst du hier?«
»Ich mache hier Urlaub.«
»Urlaub, das ist was für Versager.«
»Ich bin mit der Schule fertig, und Papa und Mama haben mir erlaubt, daß ich eine große Reise mache, bevor ich mit dem Studium anfange.«
»Frauen können nicht studieren. Wo ist mein Topf?«
Issy nahm die Bettschüssel, die unter dem Tischchen stand, und reichte sie ihrem Großvater. »Meinst du das?«
Er nickte, aber nahm sie nicht. »Ich habe Hunger.«
»Der Butler hat gesagt, daß er den Lunch um zwei Uhr serviert.«
»Er kann nicht kochen.«
»Oh.«
»Alles ist eklig und ungenießbar. Das reinste Gift. Nichts anderes. Kein Mensch kann davon leben. Fleisch will ich. Ein großes Stück Fleisch. Hirsch, Schwein oder meinetwegen Rind. Ich habe seit Tagen nichts zu essen gekriegt. Verhungern lassen sie mich, sie hungern mich aus, bis ich ihnen sage, wer ich bin.« Seine Stimme veränderte sich, er sprach leiser und sah sich nach allen Seiten um, als habe er Angst, belauscht zu werden. »Aber ich sage es ihnen nicht, und wenn ich mir den kleinen Finger abbeißen muß, ich sage es nicht, mich kriegen sie nicht so weit, mich nicht, nicht ich, ich bin kein Feigling …!« Er keuchte.
Jetzt erst sah Issy, daß auch um seine Füße Ledergurte geschnallt waren.
»Was willst du hier?« Er hatte ihren Blick gesehen. »Ja, ich kann mich nicht bewegen, ich bin festgebunden, sie haben mich gefesselt, sie haben Angst, daß ich fliehe, sie behandeln mich wie ein Tier.«
Issy sah erschüttert auf den Tigerkopf, der hinter ihm hing und mit den gefährlichen Schneidezähnen ein bißchen wie ihr Großvater aussah.
»Aber ich werde entkommen, ich entkomme immer, mich halten sie hier nicht fest, nicht noch einmal, ich habe keine Angst, ich werde meinen Namen nicht sagen, und wenn sie mir die Zunge abschneiden und mir die Augen rausschießen, wie sie es mit den anderen gemacht haben.«
Issy wich zurück. Sie kannte Bilder von gefesselten Gefangenen nur durch die aufrüttelnden Plakate von Amnesty International, die in allen Kneipen rund um ihre Schule hingen. Ob ihre Tante gemeinsam mit dem Butler den alten Mann tatsächlich gefesselt hatte? War er gefährlich und wollten sie so verhindern, daß er das Haus verließ? Oder passierten hier im Haus Dinge, die keiner wissen durfte? War die Tür deshalb abgeschlossen? Ihr Vater hatte ihr gesagt, daß der Großvater kein gutes Gedächtnis mehr hatte und daß sie sich nicht wundern solle, wenn er nicht gleich wüßte, wer sie war, aber daß er gefangengehalten und ausgehungert wurde, das wußte ihr Vater nicht. Sie überlegte, ob sie ihn losbinden und ihm zur Flucht verhelfen sollte – oder war es besser, abzuwarten, bis Tante Charlotte wieder zu Hause war, und sie zur Rede zu stellen?
Victor schnaufte und war von seinem Ausbruch sichtlich erschöpft. Er führte die Flasche zum Mund und begann zu nuckeln. Issy stellte den Topf, den sie noch immer in der Hand hielt, auf den Boden und sah auf den alten, grauhaarigen Mann, der laut schmatzend an der Flasche saugte. Obwohl der Rollstuhl genau unter dem Ventilator stand, glänzte sein Körper vom Schweiß. Um die Glühbirne an der Decke kreisten ein paar Motten. Warum gingen sie nicht mal mit ihm spazieren, sie würde gern den Rollstuhl schieben, oder
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