Warten auf den Monsun
brummte er.
Sie nickte und schaute wie gebannt auf die Spitze des Kugelschreibers, als er mit energischem Schwung unterschrieb.
»Danke, Vater.« Sie nahm das Papier und das Buch von seinem Schoß und nahm ihm den Kuli aus der Hand.
»Gib’s mir wieder.«
»Was?«
»Das Buch.«
»Möchtest du lesen?«
»Wozu brauche ich sonst ein Buch?«
Sie gab ihm das Buch zurück.
Er schlug es auf und ließ die Augen über die Seite gleiten.
Sie sah, daß er es verkehrt herum hielt.
1944
Birma
Die ersten Sonnenstrahlen kriechen durch das dichte Blätterdach. Zögernd fällt das Licht auf die Soldaten, die noch immer im Kreis sitzen, die Gesichter einander zugewandt, in der Mitte die aufgedunsene, verwesende Leiche des jungen Gefreiten. Major Victor Bridgwater sieht zu dem Hauptmann hin, der ihm direkt gegenübersitzt. Der Mann hat gestern den ganzen Tag den Stoff von der Hose des Toten in Streifen gerissen und damit die Füße seiner drei Untergebenen verbunden. Blutige, zerschundene Füße, die er zuerst gesäubert hat, bevor er sie umwickelte. Der Hauptmann hat die Augen geschlossen, aber Victor weiß, daß er nicht schläft. Niemand schläft. Im Lager herrscht Hektik. Japaner rennen hin und her, sie schleppen Kisten und Stangen. Victor hat keine Ahnung, was sie vorbereiten, aber daß der Tag heute anders sein wird als die vergangenen Tage, ist deutlich.
Die Sonne brennt schon seit Stunden hoch über ihnen und peinigt die Männer mit ihren Strahlen. Ihr Durst ist nicht gelöscht, denn der Topf mit Wasser, den man ihnen hingeschoben hat, roch genauso wie die Leiche, die zwischen ihnen liegt – wenn einer von ihnen davon trank, kotzte er es gleich wieder aus.
Ein Pfeifsignal ertönt. Von allen Seiten kommen Japaner angerannt. Im Schatten der Bäume stellen sie sich in Reih und Glied auf. Victor bleibt wie die anderen Gefangenen auf dem Boden sitzen. Wieder schrillt die Pfeife, und einer der Japaner brüllt etwas. Sie sehen sich an. Dann steht der Hauptmann auf. Er hat wie die anderen tagelang gesessen, und das Stehen tut weh. Nacheinander erheben sich auch die anderen Männer. Das Gattertor wird losgebunden, und ein kleiner Japaner mit einem Stock kommt in den umzäunten Bereich. Er mustert die fünf, einen nach dem anderen, und tritt langsam näher. Bei Victor scheint er stehenbleiben zu wollen, aber er geht weiter und stellt sich vor den Hauptmann.
»Name?«
Peter hat seine Stimme tagelang nicht benutzt, seit die Japaner ihre geheime Stöhnsprache enttarnt haben, hat sich keiner mehr getraut. Sie haben sich nur mit Blicken verständigt. Die Zunge klebt ihm wie ihnen allen am Gaumen fest, seine Kiefer sind vom Durst gelähmt. »Harris«, preßt er fast unhörbar hervor.
»You captain?« brüllt der Mann.
Peter sieht den älteren britischen Soldaten an, der ihm gegenübersteht und dessen Namen und Dienstgrad er nicht weiß. An den Resten der Uniform ist nicht auszumachen, ob er auch Hauptmann ist oder vielleicht sogar einen höheren Rang hat. Peter erinnert sich an den Tag, an dem sie ankamen, damals war sein erster Gedanke, daß der Mann kein einfacher Soldat war, er verhielt sich anders, und er strahlte Autorität aus. Aber nachdem Benjamin erschossen worden und die Nacht hereingebrochen war, war nichts mehr davon übrig; in den folgenden Tagen hatte er sich nur ängstlich zusammengekauert und ständig nervös umhergespäht. »Ich kann die Frage nicht beantworten«, sagt Peter.
Er bekommt einen Stoß in den Rücken und muß vor dem Japaner her zu einer der Hütten gehen, die unter den Bäumen stehen. Drinnen ist nichts außer einem Stuhl, auf den sich der Asiate setzt.
Folter ist etwas, worüber Peter nie nachdenken wollte. Während seines Studiums hat er gelernt, daß der menschliche Körper ein sehr verletzlicher Mechanismus ist und daß selbst die fortschrittlichsten Operationstechniken und Medikamente nicht jedes Leben retten können. In Neu-Delhi, wo er mit den besten Ärzten des Landes zusammenarbeitet, haben sie alle nur ein Ziel, und das ist Heilen. Nicht brechen, versengen oder austrocknen. Nicht verrenken, schlagen oder treten. Nicht durchbohren, enthäuten und demütigen. Nach fünf Stunden in der Hütte wird er in die Umzäunung geworfen, neben die verwesende Leiche des Soldaten. Die Fliegen stürzen sich in Schwärmen auf ihn und lecken sein Blut. Als einer seiner Männer aufstehen will, um ihm zu helfen, kracht ein Schuß, und der Soldat stürzt tot zu Boden.
Er hat nicht
Weitere Kostenlose Bücher