Warten auf den Monsun
rostigen Metallkassette, die auf dem Tisch steht. Sie sieht Madan fragend an. Er hält ihr den abgegriffenen Zettel hin, den er nun schon seit Wochen Tag für Tag jedem zeigt, der ihm begegnet. Sie blickt kurz darauf und schüttelt den Kopf. Ihre Hände schließen sich fester um die Kassette. Madan geht wieder hinaus und zieht die Tür zu, langsam geht er weiter, bei der nächsten Tür klopft er wieder an. Er wartet geduldig. Als nicht geöffnet wird, geht er weiter zur nächsten Tür. Wieder klopft er an, er hört Gepolter, die Tür wird aufgemacht. Ein Mann mit einem langen Bart steht vor ihm. Madan reicht ihm den Zettel.
»Ich kann nicht lesen, was willst du?«
Madan bedeutet ihm durch Gesten, daß er stumm ist. Bevor er ihm verständlich machen kann, daß er Arbeit sucht, hat der Mann die Tür schon wieder zugeknallt. Der Zettel flattert zu Boden. Madan hebt ihn auf und geht weiter. Sein Magen knurrt.
Er steht vor dem Bahnhof. Ein endlose Menschenmenge strömt vorbei. Keiner sieht sich nach ihm um. Er hat sich monatelang nicht rasiert, und seine Haare waren noch nie so lang. Seine Hose ist verschlissen, seine Schuhe wurden ihm gestohlen, während er schlief, und das Hemd, einst sein Prunkstück, das er aus sehr kostbarer Seide genäht hatte, ist zerrissen und schmutzig. Das ist der Moment, vor dem er sich immer gefürchtet hat, den Abbas und er früher immer vermeiden konnten, weil sie zusammen stark und schnell waren, und vor dem Ram Khan, Bruder Franciscus, Herr Patel, Chandan Chandran und Dr. Krishna Kumar ihn bewahrt hatten, indem sie ihn bei sich aufnahmen oder ihm Arbeit gaben. Er will es nicht, aber es geht nicht anders. Ganz langsam hebt er die Hand.
Er steht wie erstarrt da und wagt den Passanten nicht ins Gesicht zu sehen. Er sieht nur Schuhe, Pantoletten und die Säume wehender Saris vorbeiziehen. Niemand bleibt stehen. Alle haben es eilig. Sie sind auf dem Weg zu ihrer Arbeit, ihrem Haus, ihrer Familie, ihrer Frau, ihren Kindern. Sie haben eine Aufgabe, ein Ziel. Ihre Schritte klingen wie falsche Musik in seinen Ohren. Er möchte auch taub und blind sein, damit er nicht sehen und hören kann, daß andere Menschen sehr wohl Glück haben. Er möchte tot sein.
Ein Paar Füße in abgetragenen braunen Lederlatschen bleibt vor ihm stehen, er merkt, daß eine Münze in seine Hand gelegt wird. Er blickt auf. Der Junge ist schon wieder weitergelaufen. Er wünscht sich, nicht stumm zu sein, dann hätte er »danke schön« sagen können.
1995
Rampur
Um das Kleid für die Frau von Nikhil Nair fertigzustellen, benötigte Madan zerstoßene Mimosenblätter. Er hatte sich überlegt, daß er ihre Empfindsamkeit anregen wollte. Für die Frau des Sekretärs, die nur selten in den Club kam, weil sie ihrem Mann nur ungern über den Weg lief, wollte er die schwer zu beschaffenden Blüten des Teakbaumes hinzufügen, denn er war davon überzeugt, daß ihr Mann sie dann nicht mehr wie Luft behandeln würde. Für die schüchterne Frau des Polizeikommandanten brauchte er noch Blätter des Zimtbaumes, für eine Frau, die nach dem Verlust ihres einzigen Sohnes immer gebeugter ging, schwebte ihm eine Mischung aus getrockneten Vergißmeinnicht und den Wurzeln der goldenen Ringelblume vor, das Kleid für die Frau des Kokosölfabrikanten, das durch die geschickte Anbringung der Brustnaht eine andere Frau aus ihr machen würde, mußte er noch fertigstellen und gemahlenen Petuniensamen in den Stoff reiben, auf den sich ihr strammer Busen stützen würde, und für die Frau von Ajay Karapiet suchte er noch die Staubfäden einer wilden Orchidee. Über die Zutaten für Charlottes Kleid brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen, die lagen alle bereit. Seit dem Tag seiner Ankunft im Haus auf dem Hügel hatte er im Garten den Pflanzen, die er benötigte, Wasser gegeben und andere wiederum getrocknet. Den Rest hatte er bei seinen Besuchen auf dem Markt gefunden. Das Pulver von jungen Rosendornen, vermischt mit dem Saft eines Granatapfels, die Rinde des Apfelbaums und die kaum entfalteten Blüten des Jasmin lagen für sie bereit, er hatte auf den Stoff warten müssen, auf den nun die Nichte plötzlich ein Auge geworfen hatte. Er hatte seine Sammlung in dem alten Schuppen des Mali versteckt, an einem der wenigen Orte, den das Faktotum nie betrat, weil der Mann davon überzeugt war, daß dort noch immer der Geist des alten Mali spukte. Madan, der auch an Geister glaubte, aber vom alten Mali nie etwas bemerkt hatte,
Weitere Kostenlose Bücher