Warten auf den Monsun
geschlafen, doch er hat nicht gemerkt, daß es Nacht gewesen ist. Er spürt, daß die Sonne seinen Körper findet. Er möchte trinken, es ist ihm egal, ob das Wasser schmutzig oder vergiftet ist. Er hat Sand im Mund, Staub in der Nase, jeder Atemzug tut weh, seine Füße brennen. Er ist davon überzeugt, daß keines seiner inneren Organe noch am richtigen Platz ist und daß jeder Zentimeter seiner Haut blau oder schwarz ist. Er kann sich nicht mehr bewegen. Er gleitet zurück in die Nacht.
»Aufstehn!« brüllt ein Japaner.
Peter bekommt einen Tritt in die Seite. Er wird hochgezogen, sie hängen ihm einen bleischweren Rucksack um, der Gestank von Tod und Verderben verbreitet sich im Lager. Die paar Gefangenen, die das letzte Mal noch in der Umzäunung saßen, stehen nun nebeneinander. Der Japaner, der ihn an den Haaren hochzerrt, brüllt etwas in sein Ohr. Peter steht schwankend auf. Mit Mühe schafft er es, trotz der durch die Schläge zugeschwollenen Augenlider seine Männer zu erkennen. Sie sehen ihn erschrocken an. Ihm wird klar, daß sie nicht so behandelt worden sind wie er. Bis er sieht, daß hinter jedem der drei britischen Soldaten ein Japaner steht; sie richten ihre Gewehre auf den Mann vor ihnen. Nur auf ihn legt niemand an.
»Hunger!?« Der kleine Japaner mit dem Stock stellt sich vor ihn.
Hunger ist ein Gefühl, das Peter vergessen hat. Ein Luxusgedanke, der nicht mehr in ihm aufkommt.
»Hunger!«
Der kleine Asiate schlägt mit dem Stock in Peters Kniekehle, und er stürzt nach vorn in den Sand.
»Aufstehn!« brüllt er. »Sonst alles tot.«
Peter rappelt sich mühsam hoch, der schwere Rucksack macht es fast unmöglich.
»Iß!« Der Mann brüllt es in Peters Ohr.
Auch Lärm tut nicht mehr weh. Alles an und in ihm ist taub und gefühllos. Er begreift nicht, wie er es schafft, noch zu stehen. Was will der Mann von ihm? Keiner hat etwas gegessen. Seit Tagen. Oder getrunken. Wenn du mich aushungern willst, kommst du zu spät, denkt er, ich bin schon tot.
»Du ißt, alle frei.«
Peter versteht nicht, was der Mann meint. Was soll er essen? Warum soll er essen? Er will nicht essen. Er hat keinen Hunger. Knallt mich ab, dann ist es vorbei.
Der Japaner baut sich vor ihm auf und zeigt auf die drei Männer. Sein Finger weist auf ihre angstvollen Gesichter. Peter schaut auf seine Kameraden, von dem großen Trupp, der sich verirrt hatte, sind nur sie noch übrig, sie haben noch immer die Wickel um die Füße, die er für sie gemacht hat, sie sehen ihn flehend an. Dann wandern seine Augen zu dem älteren britischen Soldaten, dem Mann, der mit niemandem Blicke tauschte, aber dessen Augen nun vor Angst kreischen. Was soll er tun? Was erwarten sie von ihm?
»Hand«, sagt der kleine Japaner. »Iß Hand.«
Peter sieht den erschrockenen Ausdruck in den Augen seiner Männer. Soll er ihre Hände essen? Er blickt auf die zitternden, ausgemergelten Hände, die schlaff am Körper herabhängen. Alle haben noch ihre Hände.
Der Japaner schlägt mit dem Stock gegen Peters Hand. Er hebt den Arm. Einen Moment glaubt er, daß da nur noch ein Stumpf ist, aber dann sieht er, daß auch seine Hand noch immer am Arm sitzt.
»Iß! Sonst Mann tot.«
Der Japaner gibt seinen Männern ein Zeichen. Es klickt mehrmals, das Geräusch kennt Peter nur allzu gut.
»Iß! Sofort!«
Peter starrt auf seine Hand, als Halschirurg weiß er nicht viel von Händen, aber doch, daß eine Hand hauptsächlich aus Knochen und Sehnen besteht, nicht aus Fleisch. Eine Hand kann man überhaupt nicht essen. Nicht mal, wenn man es wollte.
Ein Schuß fällt. Alex, der junge Gefreite, der herrliche Geschichten über Frauen mit langen Beinen erzählen konnte, bleibt reglos liegen. Peter sieht, daß Blut aus seinem Ohr rinnt. Zwei Augenpaare flehen ihn in Todesangst an. Er will rufen, daß er seine Hand nicht essen kann, daß er es ja tun würde, aber daß es nicht geht, daß es unmöglich ist, daß er die Hand nicht mal dann essen könnte, wenn sie sie ihm abhacken würden. Wieder fällt ein Schuß. Marcus, der Leutnant, der Abend für Abend Japanerwitze erzählt hat, fällt tot zu Boden.
Der ältere Soldat sieht in Panik den Mann neben sich zusammenbrechen und kreischt: » ISS !«
Peter hebt die Hand und betrachtet den Körperteil, als sähe er ihn zum ersten Mal. Es ist still, sogar der Urwald vergißt, Geräusche zu machen. Auf dem Gesicht des Japaners erscheint ein Lächeln. Dann packt Peter mit der rechten Hand die Linke und hebt sie zum Mund.
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