Warten auf den Monsun
Er weiß nicht, wo er anfangen soll, wie er anfangen soll, er hat sonst noch nicht mal Fingernägel gekaut. Die Finger gleiten nacheinander durch seinen Mund, er sucht die schwächste Stelle, beim kleinen Finger stockt er. Seine Zähne schlagen sich ins Fleisch. Es ist nicht seine Hand. Es ist überhaupt keine Hand. Es ist eine Hähnchenkeule, so wie seine Mutter sie früher machte, gebraten, mit einer leckeren Kruste. Er riecht es. Er schmeckt es. Das Wasser läuft ihm im Mund zusammen. Er hört seine Mutter fragen, ob er noch eine möchte, weil es sein Lieblingsessen ist. Der Knochen darin ist dicker als gewohnt. Er schiebt ihn zu den Backenzähnen. Das Hühnerfleisch duftet köstlich. Seine Kiefer spannen sich. Er spürt, daß er fester zubeißen muß. Er hört seinen Vater lachen und zu seiner Mutter sagen, daß sie ihren Sohn nicht so verwöhnen soll. Er hört den Knochen knacken. Er spürt, wie der Fleischsaft in seinen Mund läuft. Das ist die leckerste Hähnchenkeule, die er jemals gegessen hat. Mit den Schneidezähnen durchbeißt er die Haut. Sein Vater beginnt hysterisch zu lachen. Er fällt vornüber und hört nichts mehr.
1946
Neu-Delhi
Charlotte hängt das lindgrüne, seidene Abendkleid, das der Schneider des Maharadschas für sie genäht hat, in den Schrank neben Peters Gala-Uniform. Sie war sehr stolz gewesen, als sie an seiner Seite durch den großen Marmorsaal schritt. Riesige Kronleuchter verstreuten funkelnd ihr Licht. Entlang der Wände, unter den Porträts der Ahnen des Maharadschas, standen Diener in goldfarbenen Livreen und verbeugten sich. Sie hatte sich wie eine Prinzessin gefühlt und nicht begriffen, warum die Frau des Maharadschas so verstört reagiert hatte, weil sie als erste ihren neugeborenen Sohn zu Gesicht bekommen hatte. Peter hatte gemeint, sie solle sich darüber keine Gedanken mehr machen; der Maharadscha habe ihm anvertraut, es sei die Schuld seiner Tochter Chutki, die Charlotte nicht hätte allein lassen dürfen. Aber sie kann die kreischende Krankenschwester mit dem neugeborenen Baby nicht vergessen. Die zornigen Tränen der Mutter, die ihren Sohn verfluchte, weil sie, eine britische Untertanin, ihn als erste gesehen hat. Sie versteht auch nicht, warum die Hausangestellte, die sie vor ein paar Tagen eingestellt hat, sich weigert, ihre Kleider zusammen mit denen von Peter zu waschen, und warum sie ihre Schuhe immer mit der Spitze nach Norden stellt.
»Das sind die Geheimnisse Indiens«, sagt Peter.
»Nein, das ist Aberglaube«, sagt Charlotte.
»Das macht das Leben in Indien ja so spannend«, sagt er. »Nichts ist, was es scheint, alles kommt anders, als man denkt.« Er stellt sich neben sie und nimmt ihre Hand. Sein Zeigefinger gleitet über ihren Ringfinger. »Wenn der Nachmittag im Krankenhaus so läuft, wie ich hoffe, komme ich früh nach Hause, dann können wir endlich unsere Ringe kaufen.« Er umarmt sie und versucht, ihre Sorgen wegzuküssen.
»Du mußt los.« Charlotte schiebt ihn von sich weg. »Sonst kommst du zu spät, und ich kriege den Ring nie.«
Sie sieht besorgt auf die Uhr. Peter müßte längst da sein. Ob es einen Notfall gab? Oder hat sich die Operation in die Länge gezogen? Die Zeitung liegt neben seinem Stuhl bereit, aber sie hofft, daß er sie nicht mehr lesen will, bevor sie zum Juwelier gehen. Sie fühlt sich nackt ohne Ehering, die Frauen im Palast des Maharadschas haben sie ausgelacht, auch die Damen im Club haben mit tadelndem Blick auf ihren Finger geschaut, und sogar beim Personal meint sie eine gewisse Mißbilligung wahrzunehmen. Sie nimmt die Zeitung und wippt ungeduldig mit dem Fuß. Ihr Blick fällt auf einen Artikel auf der Titelseite, in großen Lettern steht dort:
KRIEGSHELD GEEHRT
Oberstleutnant Victor Bridgwater wurde heute vormittag mit dem Distinguished Service Order ausgezeichnet, einer der höchsten militärischen Ehrungen, die ausschließlich Offizieren verliehen wird, die sich im Kampf gegen den Feind des britischen Reichs durch besondere Tapferkeit hervorgetan haben. Oberstleutnant Bridgwater erhält den Orden für seinen außergewöhnlich mutigen Widerstand gegen die Japaner im birmanischen Dschungel.
Ihr Vater ein außergewöhnlicher Held? Was weiß sie eigentlich von ihm? Sie hat ihn so viele Jahre nicht gesehen und keine Ahnung, was er im Krieg gemacht hat, wo er gewesen ist, wer seine Feinde sind und wer seine Freunde.
Peter kommt ins Zimmer. Er lächelt, küßt sie und entschuldigt sich für
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