Warten auf den Monsun
schlimmer, und das dröhnende Gewicht auf der anderen Seite brachte den Schrank zum Wackeln. Undeutlich hörte er zwischendurch Charlottes Worte, aber er mußte erst die letzte Naht vollenden, und das tat er, wie er es bei jeder anderen Naht gemacht hatte, mit großer Genauigkeit und viel Liebe.
Charlotte stand vor der Tür, die Arme so weit ausgebreitet, wie sie konnte. Sie durften nicht ins Klavierzimmer, das mußte sie verhindern, aber wie lange sie das noch durchhielt, wußte sie nicht, denn die Gruppe schwitzender Frauen schien nicht gewillt, wieder zu gehen.
»Wir holen die Polizei«, schnaubte die Frau von Adeeb Tata, Gattin des Großcousins des steinreichen Ratan Tata. Daß sie den Stoff für ihr Kleid noch gar nicht bezahlt hatte, war für sie nebensächlich.
»Sie werden ihn verhaften und uns unser Eigentum zurückgeben«, erklärte die Frau von Nikhil Nair, während sie die Arme fest an den Körper drückte, denn die Frau von Ajay Karapiet hatte ihr ins Ohr geflüstert, sie habe Schweißflecken unter den Achseln.
Charlotte suchte verzweifelt nach einer Lösung. Die Situation durfte nicht weiter eskalieren. »Habt ihr eigentlich an die Tür geklopft?«
Die Frauen sahen einander fragend an. Die Frau von Ajay Karapiet schüttelte betreten den Kopf. Eine nach der anderen schlugen sie die Augen nieder. Mit Ausnahme der Frau von Nikhil Nair, die allergisch gegen Kritik war. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und klopfte, ohne den Arm von der Achselhöhle zu heben, laut an die Tür.
Die Tür schwang auf, und Madan winkte alle herein.
Sogar beim Licht der einen Glühbirne sah es aus wie in einem Märchenpalast. Ringsum an den Wänden hingen die wunderbarsten Kleider. Die Frauen waren überwältigt beim Anblick von soviel Schönheit. Ungläubige und bewundernde Seufzer waren zu hören. Madan nahm die Robe aus Goldbrokat von der Wand. Die Frau von Ajay Karapiet strahlte, als hätte sie ihr Kleid schon an. Er warf es mit einem Schwung auf den Tisch. Der Stoff breitete sich anmutig aus. Charlotte kam es vor, als drehe die strahlende Frau eine Pirouette. Alle hielten den Atem an. Er nahm die Zipfel des Rockes und faltete sie nach innen. Die Frau von Ajay Karapiet hatte ein Gefühl, als glitten seine Fingerspitzen über ihre Haut. Er wickelte das Kleid in knisterndes Papier und überreichte es ihr mit einer Verbeugung. Sie sah ihn voller Bewunderung an und drückte das Paket fest an sich. Sie meinte den Duft wilder Orchideen zu riechen.
Madan nahm das Festgewand der Frau des Kokosölfabrikanten. Auch sie erfuhr eine Umwandlung, als sie ihr Kleid erblickte, ihre Brüste erstanden wieder, und sie wurde größer und hübscher. Er packte das Kleidungsstück vorsichtig ein und gab es ihr. Auch sie hielt es im Arm wie ein neugeborenes Baby.
Er nahm alle Abendkleider nacheinander von der Wand und packte sie mit großer Behutsamkeit ein. Manchmal war ein Seufzer zu hören, ein leises Ächzen oder ein kleiner, verlangender Schrei, sonst war es völlig still.
Ohne noch ein Wort zu sagen, verließen die Frauen das Haus, ihren neuen Besitz ängstlich an sich gedrückt oder unter den Falten des Sari verborgen, denn eigentlich war es keiner von ihnen recht, daß die anderen ihr Kleid schon gesehen hatten.
Sie standen sich gegenüber. Außer dem Schrank, der noch schief stand, erinnerte nichts mehr an den Tumult. Auf dem Tisch stand seine Nähmaschine, daneben lag die Schere, und auf einem Stuhl vor der Wand lag der Stapel Stoffe von ihrer Mutter, ordentlich zusammengefaltet, die scharlachrote Seide obenauf.
In Charlottes Augen brannte der Stoff so heftig wie ihr Herz.
In Madans Augen blutete der Stoff so heftig wie sein Herz.
»Und von dem da …« Issy stand in der Tür und zeigte auf den roten Stoff, »… nähst du ein Kleid für mich, ja?«
Charlotte blickte von Issy auf die rote Seide. Hatte sie dafür so oft in aller Herrgottsfrühe heimlich den Rasen gemäht, Verehrern die Tür gewiesen, weil sie ihrem Vater nicht paßten, viele Jahre gegen ihren Willen in einem Internat im kalten England verbracht, eingesperrt in einem Schrank gekauert, nachdem sie einen Tropfen vom Parfum ihrer Mutter genommen hatte, ihren Vater gefüttert und ihm nach dem Stuhlgang den Hintern abgeputzt, erbauliche Bücher gelesen, die Pfarrer Das ihr aufdrängte, jedes Kleid umgeändert und ausgebessert, bis es fast auseinanderfiel, jede Rupie zehnmal umgedreht, bevor sie es wagte, sie auszugeben, die Hand ihrer Mutter
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