Warten auf den Monsun
sie scheint alles neu zu sein, und ständig fragt oder bemerkt sie etwas.
»Indien hat mir gefehlt«, sagt Charlotte, während sie sich Lammcurry und Reis auf den Teller füllt.
»Es hat sich vieles verändert«, sagt der Hauptmann, der kaltes Wasser in ihre Gläser einschenkt.
»Mein Vater meint, alles sei noch so wie früher.«
»Was macht Ihr Vater?«
»Er ist wie Sie bei der Armee. Seit kurzem ist er Oberstleutnant. Und Sie?«
»Ich bin Chirurg.« Er spielt mit dem Essen auf seinem Teller, Hunger hat er nicht. »Als der Krieg ausbrach, wurde ich …« Seine Stimme wird leiser, »… wie die meisten britischen Staatsbürger hier eingezogen. Sie machten mich sofort zum Hauptmann, weil ich Arzt bin. Ich mußte nach Birma.« Er blickt aus dem Fenster und rührt mit der Gabel zerstreut im Curry.
»Daher die Sache mit dem Bein?« fragt sie leise.
Er nickt.
»Und mit dem kleinen Finger?«
Er nickt immer noch, während sein Blick wieder zum Fenster schweift. Aber er nimmt nicht wahr, daß ein Pferdefuhrwerk vorbeirumpelt, ein Mann mit einem Handkarren seinen Kumpel ruft, ein Straßenhändler seine Blumen anpreist und etwas weiter entfernt eine Straßenbahn vorbeifährt. Er nimmt nichts wahr. »Der Krieg war grausam«, sagt er fast unhörbar.
»Ich heiße Charlotte«, sagt sie.
Er schreckt auf, strafft den Rücken und sagt, während er die Hand ausstreckt: »Ich heiße Peter. Peter Harris.«
Sie gehen zum Hafen zurück. Vor dem Eingang des Schiffskontors sehen sie sich kurz an, um dann gleich wieder vor sich hin zu schauen. Die Tür ist verschlossen. Charlotte klopft an, aber drinnen rührt sich nichts. Sie blickt durchs Fenster und versucht zu erkennen, ob ihr Zettel noch an der Anschlagtafel hängt.
»Ob er ihn gefunden hat?« Sie rückt ihren Hut gerade. »Wenn er überhaupt gekommen ist …«
Der Hauptmann trägt wieder den Koffer mit ihrem gesamten Besitz. Wo soll ich hin, denkt sie, Donald ist noch im Internat in Nordengland, und Mutter ist tot. Charlotte wird bewußt, daß sie gar nicht weiß, wie ihr Vater aussieht. Vielleicht war er ja heute vormittag doch da und sie haben sich nicht erkannt. Er schickte ihr jedes Jahr zu Weihnachten einen Durchschlag, auf dem seine momentane Adresse stand, zuerst waren es verschiedene Armeestützpunkte, danach war er an der Front. Unter der Adresse stand in seiner akkuraten Handschrift: »Frohe Weihnachten! Dein Vater«. Ob er eine Glatze hat? Einen Bart oder einen Schnäuzer? Trägt er eine Brille oder hat er vielleicht ein Auge verloren? Sie weiß es nicht. Nach dem Foto aufgenommen vor dem Haus, auf dem Donald zwei Jahre alt war, hat sie kein neueres Foto mehr bekommen. Sie hatte sich so danach gesehnt, nach Rampur zurückzukehren, aber nun weiß sie plötzlich nicht mehr, warum. Sie kennt dort niemanden. Niemand wartet auf sie. Jahrelang hat sie gebeten und gebettelt, nach Hause zu dürfen. Nicht, daß sie es im Internat nicht mehr ausgehalten hätte, aber sie hat immer von Indien geträumt.
Sie hat keine Ahnung, wohin der Hauptmann sie führt, und sie will ihn nicht fragen. Sie will weiter neben ihm gehen. Solange sie neben ihm geht, ist sie nicht allein.
Er hatte recht gehabt. Sie stand genau an dem Platz, den er genannt hatte, und sie trug einen blauen Hut. Ihr Kleid hatte allerdings Punkte und keine Streifen. Peter hatte dem Astrologen des Maharadschas nicht geglaubt, als er ihm sagte, am Hafen von Bombay warte seine Frau in einem gestreiften Kleid auf ihn. Er hatte gelacht und gesagt, er habe keine Frau und er sei auch nicht verliebt und er wolle das Angebot des Maharadschas annehmen und nach den schrecklichen Erlebnissen an der Front die Ruhe und den Luxus im Palast genießen. Der Astrologe hatte wieder in seine Berechnungen geschaut und gesagt, es sei aber seine einzige Chance, er müsse die Uniform wieder anziehen und könne nicht warten, denn in zwei Tagen stünden die Sterne richtig. So etwas entsprach eigentlich nicht seiner Gewohnheit, aber weil der Astrologe darauf beharrte, hatte Peter, ohne seinem Gastgeber, dem Maharadscha, Bescheid zu sagen, schnell ein paar Sachen in eine Reisetasche geworfen und war zum Bahnhof geeilt. In letzter Sekunde erreichte er noch den Nachtzug nach Bombay. Die ganze Nacht und am folgenden Tag hatte er sich im Zug Szenarien ausgedacht, wie er mit einer unbekannten Frau in Kontakt kommen könnte, aber alle wieder verworfen. Ohne Plan und etwas beklommen war er zum Hafen gegangen.
Er hatte den blauen Hut
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