Warten auf den Monsun
lindgrüner Seide und im Haar ein goldenes Diadem. Feierlich schritt sie die Treppe hinab. Die Schleppe ihres Kleides glitt über die glänzend gebohnerten Stufen. Das Licht der Kerzen im Kronleuchter glitzerte in ihren Ohrringen. Aus dem Salon erklang klassische Musik. Sie war wunderschön geschminkt, die Lippen scharlachrot. Bei jedem ihrer Schritte schwoll die Musik aus dem Salon an. In der Halle standen Diener in Livree. Jeder hielt ein Tablett, auf dem ein Paar Abendschuhe standen. Nun wurden ihre nackten Füße mit den rot lackierten Nägeln unter dem Saum des langen Kleides sichtbar. Die Schuhe auf den Tabletts waren alle verschieden, sie hatten unterschiedliche Farben und Formen, aber alle hatten sehr hohe Absätze. Auf einem kleinen Podest stand ein Sessel. Charlotte nahm darauf Platz und streckte den Fuß aus. Der erste Diener kniete vor ihr nieder und probierte ihr den Schuh an. Er war zu klein. Der nächste Diener kniete nieder, mit wunderschönen goldenen Pantoletten. Auch die paßten ihr nicht. Wieder kniete sich ein Bedienter hin. Er hatte ein Paar mit ganz dünnen, gläsernen Absätzen. Charlotte steckte ihren Fuß in den Schuh. Er glitt ganz leicht hinein.
»Wie kannst du es wagen!« dröhnte es von oben.
Charlotte schaute hoch, direkt in die Augen ihres Vaters, der in seiner Uniform oben an der Treppe stand. Sie wollte etwas sagen, aber der General rief: »Du Schlampe, du bist ein Schandfleck für die Familie!«
Sie wachte erschrocken auf. Charlotte war in Schweiß gebadet und hatte sich im Laken verheddert. Sie befreite sich und stand auf, ging ins Badezimmer und hielt die Handgelenke unter den Wasserhahn. Das Wasser strömte mit hartem Strahl über ihre Hände, ihre Fingernägel waren immer noch knallrot. Sie sah auf ihr verschwitztes, verschlafenes Äußeres im Spiegel, spritzte sich Wasser ins Gesicht und trocknete sich ab. Barfuß ging sie zum Kinderzimmer, blieb vor der Tür stehen und horchte. In der Ferne zirpten Grillen, sonst war es still. Sie ging zurück in ihr Zimmer und legte sich wieder unters Moskitonetz. Über ihr drehte sich noch immer der Ventilator. Sie lag reglos da, die Augen geöffnet. Ganz langsam rollte eine Träne heraus, die über ihre Wange glitt und auf dem Kissen landete, wo sie von dem schon tausendmal gewaschenen Bezug aufgesaugt wurde.
1946
Bombay
Um sie herum fallen sich Menschen in die Arme, küssen sich und weinen Tränen vor Glück und Kummer. Ihre Augen suchen von links nach rechts. Wo ist ihr Vater, oder hat er jemanden geschickt, der sie nicht wiedererkennt? Ihr blauer Hut sitzt schief, und sie schwitzt. Nach zehn Jahren in England ist sie die drückende Hitze nicht mehr gewohnt. Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn und rückt ihren Hut zurecht. Neben ihr steht ihr großer Koffer. Männer mit roten Tüchern um den Kopf laufen hin und her, Koffer und Kisten auf dem Kopf balancierend. Sie hat die Männer schon dreimal weggeschickt. Charlotte hat keine Ahnung, wohin sie ihren Koffer bringen lassen soll. Sie kennt nur eine Adresse in Indien, und das ist ihr Elternhaus in Rampur, zwei Tagereisen von hier. Sie horcht auf die typische Aussprache des Englischen, die sie so viele Jahre nicht gehört hat, und schaut auf das zustimmende Kopfschlenkern, das »ja« bedeutet. In der Nähe steht ein englischer Soldat, der ebenfalls wartet, ein Hauptmann, seine Uniform strahlt Vertrauenswürdigkeit aus. Ist er vielleicht die Person, die ihr Vater geschickt hat? Sie fängt seinen Blick auf und lächelt verlegen. Der gutaussehende Mann wird rot und blickt zu Boden.
Außer Charlotte und dem Hauptmann ist fast niemand mehr auf dem Kai. Das ehemalige Schulmädchen geht zu dem Hauptmann. »Sind Sie auch nicht abgeholt worden?«
Der Mann lächelt schüchtern.
»Ich auch nicht.«
Schweigend stehen sie nebeneinander. Die letzte Ladung wird mit einer Talje aus dem Schiffsbauch gehievt, und Männer verteilen die Kisten auf ihre Handkarren.
»Kennen Sie Bombay?«
»Ich war erst einmal da, aber das war vor dem Krieg«, sind die ersten Worte des Mannes, der älter ist als Charlotte.
»Ich auch, als ich weg mußte«, sagt Charlotte leise. Die Erinnerung daran, wie sie ihre Mutter zum letzten Mal sah, steht ihr wieder deutlich vor Augen. Die winkende Hand, das Taschentuch, die zierliche Gestalt. »Ich schreibe dir jede Woche!« hatte sie gerufen, aber nicht mal einmal im Monat war ein Brief gekommen. Nach einem halben Jahr erhielt sie eine kurze Nachricht
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