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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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Idee!« rief die Frau von Nikhil Nair.
    Wo die anderen Frauen auf einmal herkamen, war ihr ein Rätsel, aber plötzlich war sie umringt. Die Frau von Ajay Karapiet klatschte in die Hände und rief, sie sei die Retterin in der Not. Die Witwe Singh lächelte ihr zu und schüttelte ernst den Kopf. Die Frau von Alok Nath, dem Goldschmied, drückte Charlotte den Stoff, den sie für ihr neues Kleid gekauft hatte, in die Hand, als sei sie der Schneider, und die Frau von Adeeb Tata sagte, ihr Pariser Kleid müsse gekürzt werden. Alle Frauen redeten durcheinander. Die große Erleichterung war spürbar. Charlotte dagegen brach der kalte Schweiß aus. Sie mußte die Sache stoppen, sie mußte erklären, daß sie es nicht wollte, daß sie zu beschäftigt war, daß sich ihr Haus nicht dazu eignete, daß die Dienstbotenhäuser zu baufällig waren, daß Skorpione und Schlangen darin hausten, daß man einen armen Schneider nicht darin unterbringen konnte.
    Sie wurde wie eine Heldin in den Club geführt. Sie bekam ein Glas kalter, sprudelnder Limonade und einen selbstgebackenen Keks. Es wurde spekuliert, wann er eintreffen würde, eine sagte heute, eine andere sprach von morgen, aber daß er schon in der Nähe war, wußten sie alle.

1937
Queen Victoria College
     
     
     
    Charlotte friert. Nachts im Bett trägt sie zwei Pyjamahosen übereinander und einen dicken Wollpullover. Tagsüber geht das nicht, da trägt sie ein zweites wollenes Hemd und eine Strumpfhose unter ihrer Schuluniform.
    Iris scheint die Kälte nichts auszumachen, sie vergißt oft sogar, ihren Mantel anzuziehen.
    »Es liegt Schnee in der Luft«, sagt Iris.
    Charlotte blickt in den dunkelgrauen Himmel und fröstelt. »Ich seh keinen Schnee.«
    »Sehen kannst du ihn auch nicht, aber riechen.«
    Sie schnuppert. Es riecht nicht anders als sonst, nach dem Qualm der Kohleöfen und den Tannen neben der Schule, Gerüche, die sie mit ihrem ersten halben Jahr in England verbindet, als fast niemand mit ihr redete und sie ganze Nachmittage allein in der Bibliothek hockte und las. Seit Iris und sie Freundinnen sind, ist es nicht mehr so schlimm in der Schule. Sie lachen zusammen über die Nase der Turnlehrerin und die Flecken auf dem Rock von Miss Brands, die Werkunterricht gibt. »Ich hab noch nie Schnee gesehen«, sagt sie.
    »Habt ihr in Indien keinen Schnee?«
    »Im Himalaja gibt es sehr viel Schnee, mindestens fünfzehn Meter hoch, aber da war ich noch nie. Indien ist riesengroß.«
    »Schnee ist einfach gefrorener Regen.«
    »Tut er nicht weh?«
    Iris muß lachen. »Nur, wenn du ausrutschst und hinfällst.«
    Die beiden gehen über den Pfad zur Albert Hall, wo Mrs. Blackburn den ersten Klassen die Weihnachtsgeschichte vorlesen wird. Charlottes Blick wird immer wieder vom Himmel angezogen. Es ist genau wie vor dem Monsun, wenn die Wolken tiefer sinken und der Himmel ein immer dunkleres Grau annimmt.
    Die anderen Mädchen sitzen schon auf den Bänken um einen leeren Stuhl in der Mitte des hohen Zimmers. An den Wänden hängen Gemälde mit alten Männern, und im offenen Kamin brennt ein Feuer. Alle schwatzen, und es duftet nach frisch gebackenen Plätzchen. Charlotte und Iris finden einen Platz am Fenster. Draußen sehen sie die ersten Flocken fallen, auf den Pfad, aufs Gras. Immer mehr und immer dichter. Es ist wie Zauberei. Die Bäume auf dem Platz bekommen langsam einen weißen Überzug, und das große viktorianische Schulgebäude gegenüber verschwindet ganz aus der Sicht.
    »Wie schön das ist …«, flüstert Charlotte.
    Iris lächelt.
    Mrs. Blackburn kommt herein, mit einem dicken Buch unterm Arm. Die Mädchen werden still und stehen auf. Als die Direktorin auf ihrem Stuhl Platz nimmt, setzen sich auch die Mädchen wieder hin. Die Frau legt die Hände auf das Buch und sieht ihre Schülerinnen eine nach der anderen an, sie lächelt, aber ihre Finger trommeln auf das Buch. Es wird mucksmäuschenstill. Charlottes Blick schweift wieder zum Fenster. Draußen vollzieht sich ein Wunder, wie sie es noch nie zuvor gesehen hat. Es ist faszinierender als das Feuerwerk zu Diwali und atemberaubender als die bunten Männer beim Holi -Fest. Hinter ihr ist Gemurmel zu hören, eine Köchin mit gestärkter Schürze kommt mit einer dampfenden Kanne herein und beginnt Becher vollzuschenken. Mrs. Blackburn nimmt ihre Tasche auf den Schoß und kramt nach etwas.
    »Ich kann sie nicht finden«, sagt die Direktorin.
    »Was?« fragt die Köchin.
    »Meine Brille.« Sie sieht fragend die

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