Warten auf den Monsun
nicht. Ihn noch immer mit festem Blick ansehend, hatte sie den Teller in der Hand kreisen lassen. Der Händler hatte auf den immer schneller rotierenden Teller gestarrt. Charlotte hatte ihre Hand ein klein wenig schräg gehalten, und der Teller war mit anmutigem Schwung losgesegelt. Bevor er auf dem Boden landen und zu Bruch gehen konnte, war der Händler hinzugesprungen und hatte ihn aufgefangen.
»Wedgwood zerbricht nicht so schnell«, sagte Charlotte. Nun war sie es, die lachte.
Der Mann hatte sich bei seiner Aktion das Knie gestoßen, aber das war ihm die Sache wert. Er wußte, daß er mit einem kompletten Service viel mehr verdienen konnte als mit einem, bei dem ein Teller fehlte.
»Nun?« Charlotte nahm ihm den Teller aus der Hand und setzte ihn vorsichtig auf den Stapel zurück. »Sie kennen meinen Preis.«
Der Mann, der sich das Knie rieb, ging zum Büfett zurück. Er griff noch einmal nach dem Teller, hielt ihn gegen das Licht und kniff die Augen zusammen.
Lag es an seinen glatten Haaren, seinem adretten Anzug, seiner angespannten Unterlippe? Charlotte wußte es nicht, aber noch nie zuvor hatte sie so hart verhandelt. Er bezahlte ihr schließlich dreimal mehr, als er zuerst geboten hatte. Charlotte wußte, daß er bereits einen Käufer hatte, höchstwahrscheinlich in Rampur, und hoffte nur, daß es keine der Damen aus dem Dienstagmorgenclub war.
***
Die Klimaanlage summte. Die Frau von Nikhil Nair, dem Distriktsdirektor der Eastern Indian Mining Company, und die Frau von Ajay Karapiet, deren Mann ein Hotel und zwei Kinos besaß, saßen in dem elegant eingerichteten Wohnzimmer von Nikhil Nair und tranken Tee.
»Ein Drittel Assam, zwei Drittel Darjeeling«, sagte die Frau von Nikhil Nair.
»Das habe ich mir doch schon fast gedacht, du hast immer so herrliche Mischungen«, schmeichelte die Frau von Ajay Karapiet, die ihren Tee mit viel mehr Milch trank als die Frau von Nikhil Nair.
»Hat dich eigentlich dieser Maniküredoktor, der mit der Plastikhand, noch wegen dem Schneider angerufen?«
»Habe ich dir das denn nicht erzählt?«
»Du erzählst mir nie etwas.«
»Ich weiß genau, daß ich’s dir erzählt habe.«
»Willst du etwa damit sagen, daß ich vergeßlich werde?« sagte die Frau von Nikhil Nair spitz.
»Er kommt.«
»Wann?«
Die Frau von Ajay Karapiet seufzte. »Das weiß ich nicht.«
»Warum weißt du es nicht?«
»Weil dieser Nageldoktor es nicht wußte.«
»Er kann ihn doch fragen, oder?«
»Er hat gesagt, daß der Schneider unterwegs ist.«
»Warum ist er dann noch nicht da?«
»Das weiß ich nicht.«
»Du weißt auch nie was.«
»Immerhin weiß ich, daß er kommt.«
Die Frau von Nikhil Nair biß in einen Keks. Die Krümel fielen ihr auf den Schoß. Sie war versessen auf die Kekse, die ihr Koch jeden zweiten Tag für sie backte. Immer nahm sie zwei oder mehr – was an ihrer Figur zu sehen war.
Die Frau von Ajay Karapiet mochte die Kekse überhaupt nicht, sie blieben ihr am Gebiß kleben.
»Hast du deinen Brokatstoff wiederbekommen?« fragte die Frau von Nikhil Nair ihre Freundin.
Die Frau von Ajay Karapiet seufzte wieder. »Was davon noch übrig ist.«
»Wie meinst du das?«
»Ich hab das Gefühl, daß ein Stück fehlt.«
»Das geht mir auch so. Ich weiß genau, daß ich ihm fünf Meter von der teuren chinesischen rosa Seide gegeben hatte, aber gestern habe ich den Stoff vom Dienstmädchen nachmessen lassen, und sie sagt, es sind nur viereinhalb Meter.«
»Bei mir fehlt ein ganzer Meter.«
»Bist du dir sicher?«
Die Frau von Ajay Karapiet nickte.
»Wenn der neue Schneider genau so ein Betrüger ist wie Sanat, dann …«
»Darsi Sanat war ehrlich, sein Gehilfe, der ist ein Dieb.«
»Der neue Darsi, wo wird der eigentlich arbeiten?«
»In der Werkstatt von Sanat natürlich.«
»Das ist jetzt die Werkstatt eines Buchbinders.«
»Wie ist das denn möglich?«
»Was machst du mit den Kinos, wenn dein Mann stirbt?«
Die Frau von Ajay Karapiet hatte der Frau von Nikhil Nair irgendwann einmal anvertraut, daß sie Filme haßte, aber daß ihr Mann das nicht wissen dürfe, also schlug sie die Augen nieder und nickte. »Vielleicht kann er ausnahmsweise im Club arbeiten.«
»Ja. Im Schuppen neben dem Tennisplatz. Ich ruf gleich mal den Sekretär an.« Sie griff zum Telefonhörer. »Wann kommt er?«
»Das hab ich dir schon gesagt.«
»Das hast du mir nicht gesagt.«
»Er ist unterwegs.«
***
Charlotte trug ein tief ausgeschnittenes Abendkleid aus
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