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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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zum Tennisplatz führt. Schritt für Schritt stapft sie weiter. Ihre Hände und Füße sind taub. Wäre sie nur auf der Straße geblieben, wo die Laternen den Weg weisen. Sie schirmt die Augen mit den Händen ab und späht. Nicht allzuweit entfernt brennt Licht. Sie will hinrennen, doch beim ersten großen Schritt rutscht sie aus und stößt sich das Knie an einem unter dem Schnee verborgenen Ast. Sie schreit vor Schmerz, aber es ist niemand da, der sie hört. Sie stolpert und schlittert zum Licht hin. Manchmal sieht sie es, dann ist es wieder weg. Sie reibt sich den Schnee aus den Augen. Immer wieder fällt sie hin. Der Geruch eines rauchenden Schornsteins kommt ihr entgegen. Sie muß nun nah bei einem Haus sein. Bei Wärme und Menschen. Sie sieht ein erleuchtetes Fenster. Mit beiden Fäusten hämmert sie an die Tür. Sie hört jemanden kommen, die Tür wird geöffnet. Zwei Hände ziehen das beschneite Mädchen in den Gang und schließen die Tür hinter ihr.
    Die Frau sieht erschrocken die blauen Lippen und roten Augen des Kindes, das sie nicht erkennt. Sie sagt streng: »Was um alle Welt machst du allein da draußen? Bist du verrückt geworden?«
    Charlotte spürt die Wärme des Flurs, die Hände der Frau, die ihr den Mantel ausziehen, und der Geruch von Schmorfleisch dringt ihr in die Nase. Sie denkt an ihre Großmutter, die sie nie kennengelernt hat, und an ihren Vater, der immer sagt: »Eine echte Bridgwater weint nicht.« Ihr wird auf einmal bewußt, daß ihr Vater überhaupt nicht weiß, was Schnee ist, und deshalb keine Ahnung hat, wie weh er tun kann, und daß er auch gar nicht wissen kann, daß seine Mutter nicht geweint hat, weil er noch ein Baby war, als sie starb. »Ich soll die Lesebrille von Mrs. Blackburn holen«, schluchzt sie.

1946
Bombay
     
     
     
    Zärtlich ruht sein Blick auf der schönsten Frau, die er je gesehen hat. Sie haben seit gestern abend noch kein Wort gesprochen, sie haben sich nur geliebt. Peter hat das Gefühl, daß er sie schon Jahre kennt, daß sie nicht zu reden braucht, um ihm zu sagen, wer sie ist, warum sie hier ist. Ihre langen Haare gleiten von ihren Schultern, als sie aufblickt und ihn anlächelt.
    Sie streichelt sein Bein, unter dem Knie ist eine große Narbe zu sehen. Behutsam folgt sie mit der Fingerspitze der ausgefransten, geschwollenen Linie der schlecht verheilten Wunde. Sie spürt, daß es ein Wunder ist, daß er das Bein noch immer hat, daß es bestimmt noch schmerzt, daß er darüber nicht reden will, daß sie ihm keine Fragen stellen soll, daß er es ihr erzählen wird, wenn die Zeit dazu reif ist.
    Es klopft an die Tür. Sie sehen sich fragend an. Die Magie der Nacht ist sofort zerstört. Verlegen schlägt sich Charlotte ein Badetuch um den nackten Körper. Sie zieht den Vorhang ein Stückchen auf. Das Morgenlicht, das schon seit Stunden durch die Vorhänge zu kriechen versucht, bekommt endlich eine Chance, es sprüht herein. Peter zieht schnell die Decke über sich. Charlotte geht zur Tür. Sie schaut sich zu ihm um, lächelt und dreht den Schlüssel um.
    Die Tür wird aufgestoßen, und Charlotte ist völlig verdattert. Den Mann in Uniform, der ins Zimmer tritt, erkennt sie sofort.
    Er sieht sie an, sucht nach Worten, gewinnt die Fassung wieder. »Charlotte?«
    Sie nickt.
    »Was bist du groß geworden.«
    Sie spürt ihre Brüste und Schenkel noch glühen. »Hast du meine Nachricht gefunden?«
    Jetzt ist er derjenige, der nickt. Er weiß nicht, was er sagen soll. Seine Tochter ist nicht mehr das Mädchen, das zu finden er erwartet hatte. Vor ihm steht eine hübsche junge Frau. Sie ähnelt Mathilda, sie hat die gleichen Augen und die schmalen Lippen. Er könnte sich in sie verlieben, denkt er, wenn er nicht wüßte, wer sie ist. Sie fährt sich mit der Hand durchs Haar wie ihre Mutter und lächelt schüchtern. Wie schön sie ist …! Er geht weiter ins Zimmer hinein, und sein Blick fällt auf das Bett. Sein Kiefer klappt herunter, und die Hand mit dem Cane hebt sich. Adrenalin schießt ihm in die Adern. Er ringt nach Worten, Speichel erscheint auf seinen Lippen, seine Nasenlöcher weiten sich.
    Charlotte zieht das Handtuch fester um sich, ein kalter Schauer rieselt ihr von den Füßen den Rücken hinauf und hinterläßt eine Gänsehaut. Der berauschende Duft ihrer Liebesnacht wird von einem Geruch vertrieben, den sie von ganz früher kennt und der ihr Angst einflößt. Das Licht, das gerade noch glitzernd ins Zimmer tanzte, strahlt hart und schonungslos herein.

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