Warten auf den Monsun
Das Bett ist ein Wirrwarr aus Decken und Kissen. Der Fußboden ist mit Kleidungsstücken übersät. Vor den Füßen ihres Vaters liegt die Mütze des Hauptmanns. Sie weiß, daß er sich beherrschen muß, um nicht daraufzutreten.
Peter, verletzlich und nackt, sieht den Mann an, der vor ihm steht. Ihm ist sofort klar, daß der Militär mit dem Offiziersstöckchen ihr Vater ist. Er zieht sich das Laken bis ans Kinn. Er kann den Blick nicht von dem Mann an der Tür abwenden. Er weiß, daß er ihn schon einmal gesehen hat, er kann sich nur nicht erinnern, wo. Ein plötzlicher Schmerz durchzuckt ihn, sein Körper unter dem Laken krümmt sich zusammen, er schnappt nach Luft.
Vater und Tochter bemerken es nicht. Sie sehen nur sich.
Victor blickt auf die verschwitzten Härchen an ihrem Hals und riecht den brünstigen Geruch, der mit dem betäubenden Aroma seiner Tochter vermischt ist. Das Blut rast ihm durch den Körper. Er hört seinen Atem und fühlt den Schweiß an seinen Händen.
In aller Frühe waren sie aufgestanden, hatten Feldflaschen mit Wasser im Rucksack verstaut und waren den Berg hinaufgestiegen. Es kam sonst selten vor, daß sie länger als eine halbe Stunde zusammen waren, die Dauer des Abendessens. Victor sah auf den Rücken seines Vaters, der ausgreifende Schritte machte. Als er ihn bat, etwas langsamer zu gehen, bekam er zur Antwort: »Wir sind doch keine alten Weiber.«
Sie standen am Rand, unter ihnen gähnte der Abgrund. Die Stiefelspitzen von William Bridgwater ragten über die Kante. Eine Kante, die so scharf war, als habe ein Messer den Felsen abgeschnitten. So blickten sie auf das großartige Panorama und die Wolken darüber.
»Sohn«, sagte sein Vater nach einer Weile, »das ist der Berg.«
»Welcher Berg, Vater?«
William breitete die Arme weit aus, als wolle er seinem Sohn sein zukünftiges Land zeigen. »Der Berg, der der Tod deiner Mutter geworden ist.«
Victor schaute umher. Es war ein normaler Berg, nicht steiler oder bedrohlicher als andere Berge.
»Wir haben uns geliebt, Elizabeth Charlotte Elphinstone und ich. Wir waren füreinander geschaffen.« Victor fühlte sich unbehaglich bei den persönlichen Offenbarungen seines Vaters und wollte weitergehen, aber er merkte, wie wichtig es seinem Vater war, daß er ihm zuhörte. »Habe ich dir eigentlich jemals erzählt, daß wir nicht verheiratet waren? Daß wir gar nicht mehr dazu gekommen sind? Trotzdem weiß Gott, daß sie meine Frau war und daß ich ihr immer treu geblieben bin.«
Victor, gerade sechzehn, hatte sich an diesem Morgen zum erstenmal rasiert. Er schaute seinen Vater an und sah, wie Tränen über das verwitterte Gesicht liefen.
»Sie war schön … so schön … meine liebe Elizabeth …« William Bridgwater drehte sich zu seinem Sohn um, aus seinen Augen rannen immer mehr Tränen. »Sohn, wenn du nicht zu früh auf die Welt gekommen wärst, würde sie noch leben.«
Victor dachte, daß er es falsch verstand, bisher war er davon ausgegangen, daß seine Mutter an Cholera, Malaria oder einer anderen tödlichen Krankheit gestorben war. Sein Vater sprach nie über seine Mutter. Victor wußte nur, daß die Standuhr ihre Uhr gewesen war und daß sie gewollt hatte, daß er sie bekam.
Sein Vater blickte in den Himmel über ihnen, die Sonne kam gerade hinter einer Wolke zum Vorschein. Er stieß einen animalischen Schrei aus und sprang.
Victor sah, daß er sich abstieß wie ein eleganter Schwimmer, der in einen Fluß hechtet, die Arme nach vorn, den Kopf dazwischen, die Beine gestreckt. Der Wind fror das Echo ein, das endlos zu dauern schien, bis der Körper geräuschlos auf einem Felsvorsprung zu Tode schlug und stumm weiter von Fels zu Fels in die Tiefe stürzte, eine vage rote Spur hinterlassend, um Hunderte Meter unter ihm zum Stillstand zu kommen.
Nach einer halben Stunde hatte sich noch nichts bewegt. Victor drehte sich um und ging den Berg hinab.
Victor blickt von dem nackten Mann unter der dünnen Decke zu seiner Tochter und sagt: »Ihr heiratet heute.«
1947
Ganga Yamuna Express
Lieber Donald,
ich habe eine große Neuigkeit für Dich. Ich bin verheiratet! Bitte wundere Dich nicht, daß Du es jetzt erst erfährst, aber wir haben kein Fest gefeiert. Wir kennen uns erst seit sehr kurzer Zeit, aber Vater wollte, daß wir sofort heiraten. Mein Mann heißt Peter Harris. Er ist Chirurg und hat auch im Krieg gekämpft. Es ist so schön, wieder hier zu sein, auch wenn ich mich nur schwer an die Hitze
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