Warten auf den Monsun
meinetwegen.«
Die Frau von Nikhil Nair jubelte, im Hintergrund hörte Charlotte auch die Frau von Ajay Karapiet Hurra rufen.
»Aber unter einer Bedingung«, sagte sie schnell. »Ich möchte nicht, daß mir Leute ins Haus kommen, das ist mir viel zuviel Trubel, das mußt du verstehen.«
»Ja, ja, natürlich, wir lassen dich in Ruhe, das versteht sich von selbst, wir fallen dir nicht zur Last. Überhaupt nicht«, betonte die Frau von Nikhil Nair und legte auf.
1995
Auf der Straße nach Rampur
Wenn er noch gewußt hätte, daß sein Name Madan war und daß seine Eltern ihn nicht hatten verlieren wollen, wäre er nie mit einer Nähmaschine auf dem Gepäckträger des Fahrrads nach Rampur gefahren. Das Rad hatte nicht mehr viel Druck auf den Reifen, und die Luftpumpe, die er sich geliehen und die zurückzugeben er vergessen hatte, funktionierte nicht mehr. Auf der mit Schlaglöchern übersäten Straße nach Rampur fuhren Hunderte LKW , die Abgaswolken in die Luft stießen, herrenlose Kühe hatten sich zum Wiederkäuen auf dem löchrigen Asphalt niedergelassen, in Rikschas saßen Frauen, die sich auf dem Weg zum Markt Luft zufächelten, Taxis legten keinen Meter zurück, ohne zu hupen, Männer schoben Handkarren, die sie so hoch beladen hatten, daß sie die Straße vor sich nicht sehen konnten, Kinder spielten auf der Fahrbahn, Busse versuchten ständig, jedes Fahrzeug vor ihnen zu überholen, alte Leute spazierten seelenruhig zum Tempel, um zu beten, Mopeds, so vollbehängt mit Eimern, daß man die Fahrer nicht mehr sehen konnte, konkurrierten mit den Handkarren, Ziegen suchten zusammen mit Hühnern, Krähen und Ratten in dem überall umherliegenden Abfall nach Leckerbissen, Väter und Söhne ließen sich bei offenen Fenstern vom Fahrtwind abkühlen, und Radfahrer, die wie Madan ihr ganzes Hab und Gut auf dem Gepäckträger transportierten, hofften, in der nächsten Stadt mehr zu verdienen als in der vorigen. Es war ein ständiges Geben und Nehmen. Die Autoreifen rollten oft haarscharf an den bunt ausgebreiteten Waren der Straßenhändler vorbei. Die Straße gehörte allen.
Madan trat ruhig in die Pedale. Ein Cousin aus der Familie, bei der er in den vergangenen Wochen Brautkleidung genäht hatte, hatte von seiner Frau gehört – die es von ihrem Bruder wußte, einem Arzt für Nagelprobleme –, daß in Rampur ein großes Fest bevorstand und ein Darsi plötzlich verstorben war. Ein großes Fest bedeutete neue Kleider, und neue Kleider bedeuteten Arbeit und Essen.
Madan liebte seinen Beruf, wie andere Männer eine Frau lieben. Ein Stoff, der durch seine Finger glitt, erregte ihn, der Strich des Samts, der Schimmer der Wildseide, die Textur eines Waffelmusters …
Ein LKW blies ihm pechschwarzen Rauch ins Gesicht, beißenden, halb verbrannten Diesel. Der Qualm brannte in den Augen, in der Nase und im Hals. Madan versuchte, die Luft anzuhalten, bis sich der Wagen entfernt hatte, aber eine herumtrottende Kuh hielt den ganzen Verkehr auf. Der Fahrer drückte pausenlos auf die Hupe. Die Kuh senkte den Kopf zum Boden und schnüffelte in Abfällen herum. Madan stieg ab und versuchte das Rad mit seiner schwankenden Last rückwärts zu manövrieren. Das war nicht einfach, denn die Straßendecke hatte Risse, die jedes Jahr nach dem Monsun tiefer wurden und die niemand ausbesserte.
Ein Mann mit der Statur eines Boxers, der am Straßenrand stand und dem die Wolken von Auspuffgasen nichts auszumachen schienen, sah Madan zu, der keinen Schritt zurück schaffte. »Hilfe gefällig?« fragte er nach einer Weile.
Madan nickte erleichtert. Hände wie Kohlenschaufeln packten das Rad und hoben es über die Risse, zwischen zwei Rikschas und einem hupenden Taxi durch, auf die Erhöhung aus Beton neben der Straße. Madan lächelte dem Mann dankbar zu und nahm sein Rad wieder. Es an eine Mauer zu lehnen ging nicht, und wenn er den Lenker losließ, würde es nach hinten kippen, also nickte Madan dem Mann nochmals zu und schob sein Vehikel an den kleinen Läden mit ihren verschwenderischen Auslagen vorbei. Weil er die Hände am Lenker lassen mußte, brauchte er seine wieselflinken Finger nicht zu bezwingen, als er an der Kiste mit glänzenden Äpfeln vorbeikam.
1946
Grand Palace
In ihrem Koffer hat sie außer der Schuluniform nur ein einziges Kleid, rosafarben mit Streifen. Es ist das Kleid, in dem sie geheiratet hat. Ihr Vater fand es unsinnig, ein Brautkleid zu kaufen, und Peter hatte seine Uniform getragen.
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