Warten auf den Monsun
Verlockung, sich der gebärenden Maharani zu nähern, nicht widerstehen. Die Schreie und das Stöhnen nehmen an Lautstärke zu, ebenso die anspornenden Zurufe. Dann wird es still.
Sie lugt in das Zimmer. Eine Krankenschwester hält ein blutverschmiertes, in ein Stück Stoff gehülltes Baby in den Händen, den Blick von dem Neugeborenen abgewandt. Als sie das blasse englische Mädchen in dem rosa gestreiften Kleid sieht, erschrickt sie.
Charlottes Blick fällt auf das kleine Häufchen Mensch. Ein verschrumpeltes Gesichtchen mit geschlossenen Augen, zwei nasse Beinchen mit winzigen Füßen, ein Stück Nabelschnur und darunter der Hodensack.
Die Krankenschwester schreit schrill auf und verschwindet fluchtartig hinter einem Wandschirm.
Eine andere Frau sieht Charlotte wütend an und faucht: »Sie haben hier nichts zu suchen! Gehen Sie sofort wieder in das große Zimmer!« Sie deutet auf das Ende des Ganges.
»Entschuldigung, ich …« stammelt Charlotte und dreht sich um.
»Ist sie weg?« fragt die Maharani ächzend, noch voller Blut.
»Ja«, sagt die Frau, die Charlotte weggeschickt hat.
Die Maharani beginnt zu weinen. »Warum ist sie hierhergekommen?« schluchzt sie. »Warum hat sie niemand aufgehalten?«
»Chutki sollte ihr Gesellschaft leisten, aber die ist verschwunden.«
»Hat sie das Baby gesehen?« fragt die Mutter, immer noch schluchzend.
Die Frau mit der Schwesternhaube senkt zerknirscht den Kopf. Die Mutter beginnt zu kreischen und schlägt die Hände vors Gesicht. Die anderen Frauen eilen mit nassen Tüchern und mit Wasser herbei und entzünden Räucherstäbchen rund um das Bett, während sie murmeln, daß sie zusätzliche Pujas abhalten werden.
»Warum mein Kind«, schluchzt die Mutter, »warum?«
Die Krankenschwester sieht die anderen besorgt an und signalisiert ihnen, daß sie gehen sollen. »Möchten Sie es noch sehen?«
Die Maharani sagt stöhnend: »Wenn ihr alle die Augen schließt.«
Hinter dem Wandschirm holt die Krankenschwester das provisorisch umhüllte Baby wieder zum Vorschein, ohne es dabei anzusehen. Auch die anderen Frauen haben den Blick abgewandt.
Die Maharani nimmt das Kind und schlägt das Tuch zur Seite. »Ein Sohn«, sagt sie mit zitternden Lippen. Ihr Blick gleitet von dem kleinen Glied und dem rostbraunen Hodensack zwischen seinen Beinchen zu den zugekniffenen Augen und den geballten Fäusten. »Du, mein Sohn, kannst niemals glücklich werden.«
Das Baby öffnet den Mund und beginnt zu weinen.
1995
Rampur
Hema fegte das Zimmer neben der Küche, in dem der Bobajee und seine Frau gewohnt hatten. Es war seit Jahren nicht mehr benutzt worden, die Fenster waren grau vom Staub, und die Fensterläden klemmten. Memsahib ging nie in die Räume der Dienstboten, dieses Haus war ausschließlich sein Terrain. Er wußte, daß Zimmer, die nicht regelmäßig betreten wurden, Geheimnisse enthielten. Unter jedem Stuhl oder Karton, den er wegzog, erwartete er eine Schlange oder einen Skorpion, aber das Zimmer wurde nur von einer Kolonie großer Ameisen bewohnt, die sich in der Wand unter dem Fenster eingenistet hatte, von schwarzen und grünen Käfern im Schrank und rosa Larven, die fast die ganze Matratze weggefressen hatten. Er schleifte die Überreste der Matratze nach draußen, warf schwelende Kohlen darauf und schob eine alte Zeitung dazu. Die Matratze fing sofort Feuer, und das Nest war auf einen Schlag ausgerottet. Die Käfer fegte er aus dem Zimmer, und in das Ameisennest goß er kochendes Wasser. Die Tiere krabbelten nach allen Seiten weg. Hema, ein gläubiger Hindu und strenger Vegetarier, grauste sich vor seinem Massaker. Früher übernahm der Mali solche Aufgaben, aber momentan gehörte es zu seiner Arbeit. Hema war froh, daß wieder jemand ins Dienstbotenhaus einzog, auch wenn es nur ein Schneider war, der nicht unter seinem Regiment stand. Ihm fehlten der Verantwortungsbereich und das Ansehen, das er früher genossen hatte. Der Vorsteher eines Haushalts ohne andere Dienstboten ist »wie ein Bauer ohne Land«, hatte der Butler der Nachbarn einmal zu ihm gesagt. Durch den Schneider würden wieder Leute kommen, auch wenn seine Memsahib schon klargestellt hatte, daß sie keine der Damen im großen Haus empfangen wollte. Das brächte zu viel Unruhe. Er wusch sich die Hände unterm Wasserhahn, nahm eine Schüssel mit Joghurt aus dem Kühlschrank, rührte etwas Zucker hinein und ging damit ins Kinderzimmer.
Charlotte legte den Telefonhörer auf. Die Frau
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