Warten auf den Monsun
sind mehrere Zimmer und Säle mit exquisiten Möbeln und Wanddekorationen eingerichtet. Vor einer großen Holztür bleiben sie stehen und treten ohne anzuklopfen in das Zimmer ein.
An den Wänden hängen Regale voller kostbarer Stoffe aus edlen Geweben in prächtigen Farben. In der Mitte des Zimmers sitzt ein Mann auf dem Boden, vor ihm steht eine Handnähmaschine. Der Mann dreht das Rad und näht. Chutki sagt etwas zu ihm und zeigt auf Charlotte.
Er steht auf, kommt auf Charlotte zu, senkt den Kopf und begrüßt sie mit vor der Brust zusammengelegten Händen: » Namasté .«
Charlotte erwidert den Gruß. Er nimmt das Meterband, das ihm um den Hals hängt, und stellt sich hinter sie. Ohne sie zu berühren, aber mit großer Präzision, nimmt er Maß.
»Was ist deine Lieblingsfarbe?« fragt Chutki.
Charlotte hat in den vergangenen Jahren fast nur ihre Schuluniform getragen, die dunkel und langweilig war wie alle Farben in England. Sie ist überwältigt von der Leuchtkraft der Stoffe ringsum, blau, violett, grün, gelb, rot, rosa, orange in allen Schattierungen … Einfarbige Gewebe und welche mit Mustern. Stoffe mit Stickereien, klitzekleinen Perlen oder Pailletten. Ihr Blick wandert über die schillernd bunten Regale. So viele Stapel, so viele Farben, so viele Töne … Ob Peter rosa mag? Oder blau? Ihr blauer Hut gefiel ihm, hatte er gesagt. Welche Farbe steht ihr eigentlich gut? Im Internat haben sie sich nie über Farben unterhalten. Ihr wird fast schwindlig – bis sie zuunterst in einem Stapel auf dem obersten Regalbrett einen lindgrünen Seidenstoff entdeckt, der genauso aussieht wie der Stoff des Abendkleides, das ihre Mutter einmal getragen hat, das lange Kleid mit dem tiefen Dekolleté. Charlotte zeigt nach oben. Der Darsi folgt ihrem Blick und zeigt mit einem Stock auf den Stapel. Charlotte nickt begeistert, als die Spitze des Stocks an den Stoff tippt. Der Mann nimmt eine Leiter und klettert hoch. Er zieht den Coupon heraus und wirft sich den Stoff über den Arm. Die Bahn aus geschmeidiger Seide reicht bis zum Fußboden. Charlotte läßt den Stoff durch ihre Finger gleiten.
»Gefällt er dir?« fragt Chutki.
»Geht das denn einfach so?« fragt Charlotte.
»Gaurav näht alle unsere Kleider, such dir nur was aus, für Doktor Harris tut Vater alles.«
»Warum?« kommt es leise aus Charlottes Mund, wieder wird ihr bewußt, daß sie nichts über ihren Hauptmann weiß.
»Harris Sahib ist ein guter Arzt, er weiß alles über die Kehle, wir hatten immer Schmerzen, und jetzt haben wir nie mehr Halsweh, Papa kann sogar wieder singen, aber nur, wenn ich tanze.«
»Hat er euch operiert?«
Chutki nickt eifrig. »Hier im Palast, Papa wollte nicht in ein Krankenhaus, Papa macht immer alles so, wie er es will. Jetzt will er, daß du ein Abendkleid kriegst.«
Oben auf der Leiter wartet der Darsi geduldig mit der langen, lindgrünen Stoffbahn.
»Soll es dieser Stoff sein?« fragt Chutki.
»Ja«, sagt Charlotte entschlossen, sie will genauso schön sein wie ihre Mutter früher.
Es ist leer in den Frauengemächern. Nur die alte Frau in dem Bett, das in der Mitte des Raumes steht, ist noch da, aber sie schläft. Auch ihre Punkah-wallah ist dabei, einzudösen. Charlotte geht zu dem Tisch am Fenster und schenkt sich ein Glas Wasser aus einer Thermosflasche ein. Peter hat ihr gesagt, daß er etwas Wichtiges mit dem Maharadscha besprechen muß, und sie hat keine Ahnung, wie lange es noch dauern wird. Das Wasser ist herrlich kalt und löscht den Durst. Draußen sieht sie ein Auto heranfahren. Zwei Diener mit Sonnenschirmen eilen hin. Ein Mann mit einem kleinen Koffer steigt aus. Er geht in den Palast, und es wird wieder still. Auf der weiten Rasenfläche pickt eine Krähe lustlos im Gras, und im Zimmer summt eine Fliege. Charlotte geht zu der offenen Tür an der anderen Seite des Raumes und blickt in den schmalen Gang. Sie fragt sich, wo Chutki bleibt. Von weitem hört sie Geräusche und Frauenstimmen. Sie tritt in den Gang, der langflorige Teppich schluckt ihre Schritte. Schreie sind zu hören. Charlotte erschrickt, sie weiß nicht, ob sie zurückgehen oder weiterlaufen soll. Am Ende des Ganges erscheint eine Frau mit einer Schwesternhaube und einer weißen Schürze, die eine große Schüssel mit schwappendem Wasser trägt und damit in einem anderen Zimmer verschwindet. In das Geschrei mengen sich Frauenstimmen, es klingt, als ermutigten sie jemand. Charlotte fühlt sich als Eindringling, aber kann der
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