Warten auf den Monsun
zu sich. »Noch eine Runde?« fragt er seine Freunde.
Sie sehen auf die Uhr, beratschlagen, schütteln die Köpfe. Die Karten werden eingesammelt und in eine Schachtel gepackt. »Heute abend wieder«, sagt der Mann, der die Karten in seine Tasche steckt. Die anderen brummeln zustimmend.
Mit seinem Schemel in der Hand geht Ram Khan zurück zu seinem Laden, einer Art Verschlag, der an eine Mauer angebaut ist, zwischen einem Laden für Küchenutensilien und einem Kupferschmied. Er schlägt die Stoffbahn zur Seite, die er zum Schutz herabgelassen hat, stellt den Schemel an die Nähmaschine und zieht ein Hemd, das er flicken muß, vom Stapel.
Madan, der seinem Wohltäter gefolgt ist, sieht, wie der Mann in einen Verschlag tritt. Auf einem Brett, das links und rechts auf zwei Holzblöcken ruht, steht eine Tretnähmaschine, an die er sich setzt. Auf der anderen Seite der Maschine steht eine Holzkiste, auf der ein hoher Stapel Kleidungsstücke liegt. An der Rückwand hängen fromme Bilder und eine Schere. Für mehr reicht der Platz nicht. Der Mann tritt auf das Fußbrett und fängt an zu nähen. Auf dem Boden hinter dem Mann steht ein Topf. Madan weiß nicht, ob er schon leer ist oder ob der Mann noch etwas Essen für den Abend aufbewahrt hat. Also setzt er sich hin und wartet ab.
Es dauert nicht lange, bis Ram Khan merkt, daß ihn jemand beobachtet. Über den Brillenrand schaut er zur gegenüberliegenden Straßenseite. Ein kleiner Streuner hockt dort und lächelt ihm zu. Ram Khan mag Straßenkinder nicht, sie haben Krankheiten, und sie klauen, das weiß er nur allzu gut. Mit einer Handbewegung gibt er dem Kind zu verstehen, daß es verschwinden soll, und beugt sich wieder über seine Arbeit. Ram Khan, der beim Kartenspielen seine Lesebrille aufhatte, erkennt den Jungen, der einfach sitzen bleibt, nicht als das Kind wieder, dem er den Tee spendiert hat. Als er wieder aufblickt, stellt er fest, daß das Kind immer noch da ist. Er greift zu dem Stein, den er immer benutzt, um Nadeln zu schleifen, und wirft ihn mit Schwung auf Madan. Ram Khan hat nie Kricket gespielt, der Stein verfehlt sein Ziel. Madan, dessen Hunger größer ist als die Angst, rührt sich nicht vom Fleck. Der Schneider zieht gereizt das Hemd gerade, aber als er wieder lostritt, wird die Naht schief. Mit einem Ruck zieht er den Stoff unter dem Füßchen weg. Durch seine Brille starrend versucht er die mißlungene Naht aufzutrennen, doch er kann die Garnfäden in dem karierten Stoff nicht erkennen. Ram weiß, daß seine Augen nachgelassen haben und daß er eine viel stärkere Brille braucht, aber eine neue Brille ist teuer, und wenn er dieses Hemd verdirbt, hat er nicht einmal genug Geld für ein Abendessen. Mit seinen gekrümmten Fingern versucht er den Anfang des Fadens zu finden. Der unverwandte Blick des Bengels ärgert ihn immer mehr. Er sieht sich nach etwas anderem um, womit er werfen kann, aber außer seiner Schere und seinen Slippern gibt es nichts, was sich dazu eignen könnte.
Madan hockt schweigend da und wartet ab.
»He, Ram!« Einer seiner Kartenfreunde kommt mit einem schweren Karton vorbei. »Sieh an, du hast endlich Personal.«
»Wie bitte?« brummt Ram Khan, der inzwischen den Anfang des Fadens gefunden hat und befürchtet, daß er ihm wieder wegrutscht, wenn er aufblickt.
»Einen kleinen Gehilfen.«
Ram Khan schaut verwundert hoch. Sein Blick wandert von seinem Freund zu dem Kind auf der anderen Straßenseite. »Mit dem Lumpenbürschchen hab ich nichts zu tun.«
»Ich denke, er lauert auf mehr, ich würde aufpassen, sonst zieht er dir den Topf unter den Füßen weg. Du weißt doch, wenn man eine Ratte mit Zucker füttert, dann bringt das Unheil.«
»Verpaß ihm einen Tritt«, blafft Ram Khan.
»Du siehst doch, daß ich beschäftigt bin.«
Madan macht sich kleiner, aber sieht den Schneider weiterhin an. Er ist davon überzeugt, daß er den Stein absichtlich danebengeworfen hat. Der Mann mit dem Karton geht unfreundlich brummelnd weiter, und der Schneider in seinem Verschlag schaut wütend auf das Oberhemd vor ihm auf dem Tisch. Sein Blick wandert wieder zu dem schmutzigen Kind, das ihn unentwegt ansieht. Es ist voller Blutflecke, und sein Hemd starrt vor Dreck.
Unvermittelt steht Ram Khan auf und läuft in die Gasse neben dem Kupferschmied. Madan sieht ihn erwartungsvoll an. Der Schneider winkt, daß er ihm folgen soll. Mit kleinen, schnellen Schritten trippelt er hinter dem Mann her. Am Ende des schmalen Durchganges biegt die
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