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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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da, wo es auch vor siebzehn Jahren stand – an der Wand mit der Tür zum Badezimmer. Die Matte, auf der Sita immer geschlafen hat, liegt, als habe sie sie noch letzte Nacht benutzt, aufgerollt unter der Holzbank. Charlotte war froh, daß Sita auch auf der Beerdigung war; auch wenn sie bescheiden im Hintergrund stand und sie nicht ansprach, war sie doch da, so wie sie auch früher immer in Notsituationen da gewesen war. Wenn sie doch jetzt ins Zimmer käme, einfach, um neben ihr zu sitzen und beschützend den Arm um sie zu legen. Sie zu beruhigen mit dem vertrauten Duft von Kokosöl, mit dem Sita sich jeden Morgen die Haare einrieb. Charlotte sehnte sich nach einem Stückchen kandierten Ingwer, der Leckerei, die die Ayah bei aufgeschürften Knien und Nasenbluten aus den Falten ihres Sari hervorzaubern konnte. Und danach, wie sie ihr vor dem Schlafengehen die Verfilzungen aus den Haaren gebürstet und ihr bei jedem Bürstenstrich den Namen einer Traumfee ins Ohr geflüstert hatte. Aber ihr Vater hat Sita weggeschickt, also ist sie allein.
    Charlotte steht auf und geht zum Kleiderschrank, den sie früher mit ihrem Bruder geteilt hat. Er steht noch immer auf seinem festen Platz neben der Balkontür. Auch die Spielzeugkiste steht noch mitten im Zimmer. Sie zündet sich eine neue Zigarette an, der Anblick der Gegenstände aus ihrer Vergangenheit beruhigt sie ein wenig. Die Angstattacke, die sie auf dem Friedhof überkam, hat sie verwirrt. Es kann doch nicht so sein, daß Peters Erbe aus seinen Ängsten besteht? Trotzdem weiß sie genau, daß das, was ihr neben dem Grab widerfuhr, mit dem zusammenhing, was er jede Nacht durchmachte. Schwebte er über ihr und wollte ihr damit sagen, daß er sie liebte? Oder hatte er sie etwa nie geliebt und war das die Strafe, weil sie keine Kinder bekommen hatten? Es klopft, und bevor sie »nein« sagen kann, geht die Tür auf.
    »Was ist das hier für eine Stinkbude!« dröhnt die Stimme ihres Vaters. Er marschiert mit schnellen Schritten zum Fenster und stößt die Läden auf. Die Strahlen der untergehenden Sonne fallen auf das Bett. »Aufstehn und weitermachen, das ist die einzige Medizin, rumsitzen und um etwas trauern, was für immer vorbei ist, hat keinen Sinn.« Er zieht an der Klingelschnur. »Ich lasse das Zimmer mal durchlüften, dann verschwinden auch die trübsinnigen Gedanken aus deinem Kopf.«
    »Vater?« Ihre Stimme überschlägt sich.
    »Ja?« Der General sieht seine Tochter an, als nähme er sie erst jetzt wahr in ihren schwarzen Trauerkleidern auf dem Kinderbett, in der Hand eine brennende Zigarette.
    Charlotte möchte ihm so vieles sagen, daß die Läden wieder geschlossen werden sollen, daß es nicht einfach trübsinnige Gedanken sind, die ihr durch den Kopf spuken, daß sie gegen ihre Tränen ankämpfen muß, daß Peter vielleicht Angst hatte, aber daß das nicht seine Schuld war, daß sie nicht weiß, was er bei seinem Einsatz in Birma erlebt hat, aber daß er es ja womöglich weiß, daß sie sich panisch davor fürchtet, Peters Ängste zu erben, daß sie nicht weiß, wo sie hin soll, daß sie auf der ganzen Welt keinen eigenen Platz hat, außer vielleicht dieses Zimmer, das seit ihrer Kindheit unverändert ist, daß sie ihre Mutter vermißt oder eigentlich das Gefühl, einmal eine Mutter gehabt zu haben, daß sie nicht weiß, was das Wort »Familie« bedeutet, daß sie nicht mal weiß, wie es ist, einen Mann zu haben, daß die leidenschaftliche Liebesnacht im Hotel in Bombay nie wiederholt wurde, daß sie zwar alles darangesetzt hat, ihn zu verführen, aber daß es ihr nicht gelungen ist, daß Peter seine Patienten anscheinend mehr liebte als sie, daß sie das Gefühl hat, daß ihr ihre Kindheit und Jugend geraubt wurde, aber daß sie nicht weiß, von wem, daß sie Angst hat, große Angst, noch einsamer zu werden, als sie schon ist, daß sie, wenn sie in den Spiegel schaut, eine Frau sieht, die sie nicht kennt, daß sie … »Hast du geweint, als Mama starb?«
    Victor sieht seine Tochter verständnislos an, noch nie hat ihm jemand eine so persönliche Frage gestellt. Er ist so verblüfft, daß er sich kurz fragt, ob er sich nicht verhört hat, aber am Gesicht seiner Tochter sieht er, daß er die Frage richtig verstanden hat. »Weinen? Ich?« Er lacht höhnisch. »Der Mensch, ob Mann oder Frau, der mich zum Weinen bringt, muß erst noch geboren werden. Nein, Charlotte, ein echter Bridgwater weint nicht, niemals.« Nicht mal, wenn sein Vater vor seinen Augen in den

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