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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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Abgrund springt, will er hinzusetzen, aber er schluckt es runter. Warum ein Kind mit Bagatellen aus der Vergangenheit ermüden, die längst vergessen sind?
    »Ich habe auch nicht geweint, als sie starb«, sagt Charlotte.
    »Siehst du, du schlägst deinem Vater nach.«
    »Weil ich nicht wußte, daß sie tot war, weil du es mir erst nach einem halben Jahr geschrieben hast.«
    Es ist einen Moment still. Draußen singt ein Vogel, und die hohe Stimme des Samosa-Verkäufers tönt herauf.
    »Es hatte keinen Sinn, es dir eher zu schreiben«, sagt Victor mit Nachdruck, »keinen Sinn.« Es klopft, er schaut zur Tür und fährt fort: »So wie es auch keinen Sinn hat, hier im Dunkeln zu sitzen und Trübsal zu blasen. Herein!« Das letzte Wort ruft er lauter als eigentlich gewollt.
    Ein Diener in einer makellosen Livree tritt ins Zimmer. »Sie haben geläutet, Sahib?«
    »Bring die Koffer meiner Tochter ins gelbe Zimmer!«
     
    Als sie den Parfumflakon aufschraubt, riecht sie den Duft ihrer Mutter. Hinter ihr räumen die Dienstboten die Schränke im gelben Zimmer aus. Säcke voller Kleider und Schachteln mit Damenschuhen verschwinden auf den Dachboden und ins Kinderzimmer. Ihr alter Kleiderschrank wird mit Stapeln bunter Stoffe, Schals und Umschlagtücher gefüllt, die ihre Mutter gesammelt hatte. Jede Schublade, jedes Schränkchen und jedes Regalbrett wird saubergewischt. Charlotte schaut nicht hin. Sie will nicht jetzt, fünfzehn Jahre später, um den Verlust ihrer Mutter weinen. Ihr Vater hat recht, die Toten kommen nicht wieder, auch nicht, wenn sie weint.
    »Ma’am, soll die Flasche auch weg?« fragt einer der Diener schüchtern.
    Sie gibt ihm den fast leeren Parfumflakon. Geräuschlos stellt er ihn in eine Schachtel zu den anderen Fläschchen, um dann selbst auch geräuschlos zu verschwinden.
    »Ich lasse die Wände morgen grün anstreichen.« Ihr Vater steht in der Tür. »Der Farbgeruch hilft.«
    Ehe sie fragen kann, wobei oder wogegen der Farbgeruch helfen soll, ist er weg. Seine Stimme, die ruft, daß er einen Maler brauche, schallt durchs Haus. Charlotte schließt die Tür. Sie will allein sein. Sie will darüber nachdenken, ob ihr Entschluß richtig war. Soll sie bleiben oder von hier fortgehen? Und wenn sie fortgeht, wo soll sie dann hin? Wohin könnte sie gehen? Die leeren Schränke starren sie an, genau wie der Spiegel, der früher ihre Mutter spiegelte. Das grüne Kleid, wo ist ihr grünes Abendkleid? In Panik springt sie auf, rennt ins Treppenhaus und hält den ersten Dienstboten an, der vorbeikommt. »Wo sind die Kleider von meiner Mutter? Ich will ihr grünes Abendkleid sehen.«
    Der Diener hat keine Ahnung, welches Kleid sie meint, nickt aber unterwürfig und geht weiter.
    »Ein langes, grünes Kleid. Lindgrün mit tiefem Halsausschnitt.«
    »Ich halte es nicht für schicklich, heute abend auszugehen«, sagt der General, der hinter ihr steht. »Du hast heute deinen Mann zu Grabe getragen.«

1947
Neu-Delhi
     
     
     
    »Komm doch mit, bitte, alle sind auf der Straße.« Charlotte zupft sanft an der Bettdecke, unter der Peter sich noch mehr in seine Fötushaltung zusammenrollt. »Es ist ein Fest! Alle tanzen und singen.« Peter zieht sich ein Kissen über den Kopf und hält sich die Ohren zu. Charlotte setzt sich auf den Rand des Ehebetts. Sie legt ihm die Hand vorsichtig auf die Schulter. Sie weiß nicht, ob sie ihn streicheln oder aus dem Bett ziehen soll, in dem er sich manchmal einfach versteckt. »Peter?« Sie zögert, sie kann ja auch ohne zu fragen gehen und sich in den Festtrubel stürzen. »Ist es dir recht, wenn ich in den Club gehe, ich möchte diesen historischen Tag gern miterleben.« Der Jubel und die Rufe auf der Straße erreichen ihr Ohr. Peters Körper durchläuft ein Zittern. »Soll ich die Fenster zumachen? Möchtest du lieber allein sein?« Sie steht auf, schließt die Fenster und stellt den Ventilator über dem Bett auf die höchste Stufe. Der Rotor dreht sich, ein erfrischender Wind streicht auf sie herab. Charlotte streichelt ihren Mann. »Kommst du mit? Nur dieses eine Mal? Dir wird nichts passieren, die Leute sind froh, alle lachen.« Sein Körper verkrampft sich. Als er aufschaut, nimmt sie den furchtsamen Blick in seinen Augen wahr. »Ich würde so gern ein einziges Mal mit dir tanzen«, flüstert Charlotte.
    Mit unerwartetem Schwung wirft Peter das Kissen von sich. Er fährt hoch. »Siehst du denn nicht, daß ich nicht will, ich bitte dich doch auch nicht darum, etwas zu tun, was

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