Warten auf den Monsun
Gasse nach links ab. Es ist dort dunkel, und es riecht nach Kacke und Pisse. Das spärliche Licht fällt durch einen schmalen Schacht zwischen den Häusern. Der Mann sieht den kleinen Jungen, der auf ihn zuläuft, drohend an. Die Geräusche der Straße sind hier nicht zu hören. Vor einer morschen Tür steht ein Eimer, halb mit Wasser gefüllt. Ram Khan zeigt auf den Eimer. Von der Tasse süßen Tees vor einer Stunde ist Madans Durst noch nicht gelöscht, und er fällt auf die Knie, um zu trinken.
Ram Khan versetzt ihm einen Tritt. »Nicht trinken, waschen!« Mit der Hand fischt er aus dem Eimer eine rostige, mit Wasser gefüllte Dose und schüttet sie über das Kind. »Waschen. Auch dein Hemd. Wenn du sauber bist, kommst du nach vorn.« Er wirft die Dose zurück ins dunkle Wasser und stiefelt weg.
Als der Mann außer Sichtweite ist, beugt sich Madan wieder über den Eimer und trinkt. Gierig schlürft er das Wasser. Es schmeckt etwas seltsam, aber es löscht den Durst. Er gießt sich eine Dose Wasser über den Kopf und reibt sich mit den Händen über die Arme.
Nicht sauber, aber zumindest naß steht er wieder vor Ram Khan. Der schaut nicht auf, sondern näht weiter. Madan wartet mucksmäuschenstill und schaut auf die Hände, die ein Stück blauen Stoff durch die Maschine ziehen. Genau so ein Blau wie die Jacke seiner Schwester. Zweimal dreht der Schneider den Stoff, dann nimmt er die Schere und schneidet die Fäden ab. Ohne ihn anzublicken wirft er Madan das Kleidungsstück zu, der es auffängt und sieht, daß es eine Hose ist, die ihm passen könnte.
1953
Rampur
»Ein Mann stirbt nicht einfach. Ein Mann stirbt nur, wenn er es will …«
Charlotte blickt durch den schwarzen Schleier auf ihren Vater, der in seiner Uniform ihr gegenüber am offenen Grab steht. Der Sarg wurde gerade hinabgelassen, und die kleine Gruppe Trauergäste hört mit gesenktem Kopf den Worten des Generals zu. Charlotte will protestieren, sagen, daß er unrecht hat, aber sie weiß, daß es stimmt, was ihr Vater sagt. In diesem Fall.
»Peter Harris war ein guter Arzt«, fährt Victor fort und blickt auf den Sarg seines Schwiegersohns, »aber ein verwundeter Mensch.« Auf dem Deckel liegt eine Hauptmannsmütze und ein Strauß kleiner gelber Blumen. »Ich hatte nicht erwartet, daß du mir meine Tochter so schnell zurückgeben würdest. Aber …« Victor nimmt eine Handvoll Erde, »… ich verspreche dir, ich werde auf sie aufpassen, als wäre sie meine eigene Frau.« Er wirft die Erde auf den Sarg. Sie prallt dumpf auf.
Einer nach dem anderen tut es ihm nach. Charlotte würde sich am liebsten die Ohren zuhalten, wegrennen von dem hohl klingenden Geräusch. Daß er nun wirklich begraben wird, nachdem sie die Hilfeschreie aus seinen Träumen immer besser verstehen konnte, erfüllt sie mit Verzweiflung. Peter war tatsächlich verwundet und hatte Angst, Todesangst, in tiefer Dunkelheit zu ersticken. Charlotte versteht nicht mehr, warum sie ihn nicht in Neu-Delhi hat bestatten lassen. Warum wollte sie, daß er hier neben ihrer Mutter liegt, die sie auch nicht gekannt hat? Warum ist sie nicht nach England zurückgegangen? Warum ist sie wieder in Rampur? Die kleine Gruppe Menschen schaut sie an, sie erwarten, daß auch sie nun etwas Erde nimmt und auf den Sarg ihres Mannes wirft, aber sie kann es nicht, sie will es nicht. Die Hand, die Peter in den letzten Monaten jede Nacht an die Gurgel griff, greift nun auch nach ihr. Ihre Kehle ist staubtrocken, sie hat das Gefühl, daß ihr die Luft aus den Lungen gepreßt wird. Sie schnappt nach Luft, frischer Luft, sauberer Luft. Weg von diesem Ort voller Tote und Steine. Ihr Vater räuspert sich und bedenkt sie mit einem abfälligen Blick. Die anderen können ihr Gesicht hinter dem Schleier nicht sehen. Der Schleier! Es ist der Schleier! Sie zieht den Trauerschleier vom Hut und ringt nach Atem. Sie spürt die Blicke der Trauergäste, sie nimmt sich zusammen, bückt sich und nimmt zitternd ein wenig Erde von dem Hügel neben dem Grab. Sie wirft. Halb an den Rand, halb neben das Grab. Zum Glück hat sie den Sarg nicht getroffen.
Der Aschenbecher ist voller halb aufgerauchter Stummel, das Zimmer ist mit grauem Qualm gefüllt. Die Fensterläden hat sie schließen lassen, und ihre Koffer stehen unausgepackt in einer Ecke. Das alte Kinderzimmer ist unverändert. Ihr Bett mit dem rosafarbenen Überwurf steht noch unterm Fenster, und das Bett ihres Bruders mit der blauen Tagesdecke steht
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