Warten auf den Monsun
war darin. Er mußte Memsahib sagen, daß sie Herrn Anand, den Kaufmann, bezahlen solle, sonst würde der ihm keinen Zucker mehr geben. Vorsichtig streute er die Hälfte des Zuckers in die weiße Flüssigkeit und begann beim beruhigenden Geräusch der surrenden Nähmaschine zu rühren. Auf dem Pfad hörte er Schritte, das war sicher wieder ein Kuli von einer der Damen des Clubs, an diesem Tag waren schon mehrere dagewesen, um besonderes Nähgarn oder Schmuckband zu bringen. Manche schauten auch nur herein und hofften auf eine Tasse Tee. Memsahib mochte es nicht mehr, wenn Besuch kam, während sie sich früher immer darüber gefreut hatte.
Charlotte trat in die Küche. Es hatte sich nichts verändert, registrierte sie, auch wenn sie sich nicht erinnern konnte, wann sie zum letzten Mal hier gewesen war. Hema sprang erschrocken auf und hantierte emsig herum. Sie ermahnte ihn zur Ruhe und sagte, er solle mit seiner Arbeit weitermachen. Mit den Worten »Ich wollte nur mal schaun, ob der Darsi auch alles hat, was er braucht« ging sie ins andere Zimmer.
Madan hörte nicht, wie sie eintrat, die rosa Seide ließ sich nur mit höchster Konzentration unterm Nähfüßchen zu den feinen Schulterbiesen formen. Mit der linken Hand übte er genau den richtigen Druck aus, mit der rechten drehte er im passenden Tempo. Das amerikanische Abendkleid, das er für die Frau von Nikhil Nair nähen sollte, hatte nichts mit Amerika zu tun. Er wußte nur, daß es ein Land war, wo jeder ein Auto besaß, und daß schon mal ein Amerikaner auf dem Mond gewesen war, doch ob das wirklich stimmte, wußte er nicht. Also belauschte er den Stoff und erinnerte sich an die Konturen der Frau in dem Haus mit der roten Tür. Er wollte ihren hängenden Bauch und ihre schlaffen Brüste in dem rosa Stoff verbergen.
»Möchtest du eine Tasse Tee?«
Madan sah auf und sah Charlotte lässig am Türpfosten lehnen. Dann kam sie ins Zimmer.
»Hast du genug Licht? Oder soll Hema dir eine zweite Lampe besorgen?«
Hema wunderte sich über die Worte seiner Memsahib. Seit Jahren hing die Glühbirne unter der Decke, und jeder, der in dem Raum gewohnt oder gearbeitet hatte, hatte sich mit diesem Licht begnügt. Wo sollte er nun plötzlich mehr Licht hernehmen? Alle nicht unbedingt notwendigen Lampen hatte sie verkauft, und wenn er eine stärkere Glühbirne einschraubte, würde bestimmt die Sicherung rausfliegen.
Madan nickte.
Charlotte konnte daraus nicht entnehmen, ob er nun Tee wollte oder ob ihm das Licht reichte.
Er zeigte zur Decke und machte durch Gesten verständlich, daß es so in Ordnung war.
Sie drehte sich zu Hema um. »Eine Tasse Tee für den Darsi«, sagte sie.
Hema sah auf die kochende Flüssigkeit im Topf und rührte langsam. Sollte er den Tee der Memsahib nun dem Stummen geben oder war dieser Tee für sie? Und wollte sie ihren Tee hier oder im großen Haus serviert haben? Hema kochte immer etwas mehr Tee, so daß er auch eine Tasse abbekam, aber vor den Augen der Memsahib wagte er das nicht. Aus den Augenwinkeln lugte er ins Zimmer und sah, daß Memsahib den Stoff vom Tisch nahm und durch ihre Finger gleiten ließ. Zu dieser Tageszeit war sie, seit der Flügel weg war, sonst meist in ihrem Schlafzimmer. Was sie dort machte, wußte Hema nicht. Er vermutete, daß sie schlief oder ein Buch las. Wenn es dunkel wurde und das Leben unten am Hügel wieder begann, wollte sie immer eine Tasse Tee mit einem Keks. Er stieß dann die Fensterläden auf und zog die Vorhänge beiseite, damit sie die Abendluft genießen konnte und die Geräusche, die aus der Stadt zum Hügel heraufklangen. Sie sagte etwas zu dem Stummen, was er nicht verstehen konnte. Warum kam sie hierher? Warum hatte sie nicht nach ihm geklingelt, wie sonst auch, und ihn gefragt, ob mit dem Schneider alles in Ordnung sei? Sie würde, das wußte er genau … Hema schrie vor Schmerz auf. Der Topf kochte über, und die heiße Flüssigkeit lief über seine Hand. Charlotte kam in die Küche und sah ihren Butler neben dem Herd bei dem Feuer am Boden hocken.
»Was ist passiert?« fragte sie besorgt.
»Nichts, Ma’am, der Tee ist heiß.«
»Bringst du mir gleich auch eine Tasse?« Mit großen Schritten ging sie zum Haus zurück und nahm sich vor, nicht mehr einfach so ins Küchenhaus zu gehen.
1952
Bombay
Beim ersten Morgenlicht kriecht er unter dem Tor durch, die leere Flasche hat er bei sich. Gestern hat er gesehen, wo Samar sie gefüllt hat, aber ohne seinen Freund kann er den
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