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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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angehaltenem Atem klammern sie sich aneinander fest.
    Nach zwei Minuten, die ihnen vorkommen wie eine ganze Nacht, flüstert Samar: »Sie sind weg.« Er schleicht sich aus dem Versteck und sieht nach, ob die Straße wirklich verlassen ist. Als er wieder unter die Decke schlüpft, flüstert er: »Mukka, wir haben Glück gehabt, wenn die Polizisten uns gesehen hätten, dann hätten sie uns mitgenommen und ins Gefängnis geworfen. Dort stirbt man.«
     
    ***
     
    Unter dem Bahnhof verläuft ein schmaler Gang, den nur die Männer von der Eisenbahn benutzen dürfen, aber Samar und Madan können, wenn sie sich ganz dünn machen, auf dem Bauch unter dem Gittertor durchrutschen. Als die Lichter ausgehen und die Männer den Eingang mit einem großen Vorhängeschloß versperren, kriechen sie unter dem Tor durch. In dem Gang finden sie eine Kiste mit Putzwolle und Lumpen, und zum ersten Mal seit Wochen schläft Madan, wie er in seiner Erinnerung früher geschlafen hat – nicht auf dem harten Boden, sondern auf etwas Weichem.
    Mitten in der Nacht wacht er auf. Wo ist Samar? Er versucht über den Rand der Kiste zu schauen, aber in der Dunkelheit kann er nichts erkennen. Er wacht und horcht. Er hört zwar Geräusche, aber es ist nicht das Atmen oder Pinkeln von Samar. Madan spürt, daß neben seinem Kopf die Flasche mit Wasser steht, sie ist noch voll. Ob Samar hungrig ist und sich auf die Suche nach etwas Eßbarem gemacht hat? Das würde er doch nicht ohne ihn tun? Madan klettert aus der Kiste. Wo bist du? Er tastet den Boden ab, ob sein Freund dort liegt, vielleicht gefiel es ihm nicht, auf den Putzlumpen zu schlafen. Auf dem Boden liegen nur ein paar Bretter und ein Rad. Ganz vorsichtig, um sich nicht zu stoßen, tastet sich Madan zum Ausgang vor. Er hört immer mehr Geräusche, die im Gang nicht zu hören waren. Ein Auto fährt vorbei, ein Hund kläfft, und in der Ferne tutet ein Schiffshorn. Samar, wo bist du? Er kriecht unterm Tor durch.
    Die Gasse hinterm Tor ist leer bis auf eine wiederkäuende Kuh. Ein Stück weiter fährt eine Rikscha. Madan läuft zur Straße und sucht dort. Er kann seinen Freund nirgendwo entdecken. Er geht zu der Gasse mit dem Tor und kriecht wieder drunter durch. Er liegt bestimmt wieder in der Kiste. Er krabbelt in den Gang bis zur Kiste. Bist du hier? Er tastet. Nur die Lappen und Fetzen, kein Samar. Er ruft: »Samar, wo bist du?« Schrille, heisere Laute füllen den Gang. Madan klettert wieder in die Kiste, er weiß nicht, was er tun soll. Er nimmt die Flasche und trinkt. Er will nicht zuviel trinken, denn wenn sein Freund zurückkommt, hat er bestimmt Durst. Er faßt sich an den Hals. Seine Kette, die, wie Samar meinte, aus echtem Gold ist, ist weg. Da weiß er, daß sein Freund nicht mehr zurückkommen wird.

1995
Rampur
     
     
     
    Die Nähmaschine stand wieder auf dem Tisch, und Madan hatte die rosafarbene Chinaseide vor sich ausgebreitet. Mit Kreide zeichnete er kleine Striche auf den Stoff und überprüfte sein Werk. Seine Finger glitten darüber, als erzähle ihm das Gewebe, was für ein Kleid es werden wolle. Manchmal zupfte er an dem Stoff und setzte einen Strich ein Stückchen weiter. Dann nahm er die Schere und schnitt. Nicht langsam oder nachdenklich, sondern blitzschnell und sicher. Die ausgeschnittenen Teile warf er zur Nähmaschine.
    Hema, der sich bemühte, Feuer zu machen, streifte mit halbem Blick den Schneider im Nebenzimmer. Memsahib war wütend auf ihn gewesen, aber der Stumme hatte nur überglücklich die Nähmaschine aus dem Schuppen geholt und wieder auf den Tisch gestellt. Nach dem Lunch, als sich alle von der lähmenden Hitze erschöpft einen kühlen Schlafplatz suchten, hatte er den Stummen weiterarbeiten hören. Nun war es fast dunkel, und Hema fachte die Kohlen an. Erleichtert sah er, daß sie Feuer fingen. Er erwärmte den rußgeschwärzten Topf über der Flamme. Die Memsahib liebte den Tee, den er nach einem alten Familienrezept zubereitete. Er füllte etwas Wasser in den Topf und stellte ihn aufs Feuer. Er sah, wie sich der Stumme an seine Nähmaschine setzte und das Rad zu drehen begann. Wie der Butler der Nachbarn schaute auch Hema auf den Schneider herab. Doch als er den Stummen nun bei der Arbeit sah, nötigte der ihm doch einen gewissen Respekt ab. Der Mann in dem grünen Hemd arbeitete flink und ohne zu zögern, während Hema bei jedem Handschlag nachdenken mußte. Das Wasser kochte, Hema gab die Milch dazu und griff zur Zuckerdose. Nur noch ein kleiner Rest

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