Warten auf den Monsun
sehe, setzt es was.«
Madan hält das Hemd von sich weg, damit es nicht schmutzig werden kann, fährt dann vorsichtig mit der Nadel unter den Faden und zupft ihn Stück für Stück heraus.
Ram Khan beobachtet fasziniert, wie Madans kleine Finger den Faden mit großer Präzision herausfummeln. Seine Augen beginnen zu leuchten. Könnten seine Kartenfreunde ihn in diesem Moment sehen, wären sie baff. Mit einer für ihn ungewöhnlich geschmeidigen Bewegung nimmt der Schneider den Kleiderstapel von der Holzkiste und legt alles auf seinen Schemel, dann dreht er die Kiste um und öffnet sie. Sie ist vollgestopft mit Stoffresten, Spitzen, Tüten mit Knöpfen und Schulterpolstern. Hinter der Kiste zieht er einen Jutesack hervor und stopft die Nähsachen hinein. Dann dreht er die Kiste noch einmal um, so daß die Öffnung nun seitlich ist und der Deckel wie eine Tür aussieht. Er nimmt die Kleidungsstücke wieder vom Schemel und legt sie zurück auf die Kiste. Madan, in die Aufgabe vertieft, den Faden sauber herauszufitzeln, blickt nicht auf. Zum Schluß stellt der Schneider den Jutesack seufzend auf den Kleiderberg. Der baufällige Schuppen ist durch die Veränderung noch voller geworden, und es sieht so aus, als könnte er sich jeden Moment von der Mauer lösen, die seine Rückwand bildet.
Mit einem abfälligen Blick äugt Ram Khan durch seine Brillengläser auf den Kragen. Von der vermurksten Naht ist nichts mehr zu sehen. »Nächstes Mal die Pfoten besser waschen.« Er legt das Hemd neben die Nähmaschine.
Madan sieht ihn erwartungsvoll an. Er ist hungrig.
»Glaub bloß nicht, daß du mit so ’ner Kleinigkeit deine Hose bezahlt hast, und außerdem krieg ich noch Geld für den Tee und für die Benutzung der Waschecke.«
Madan macht ein erschrockenes Gesicht.
»Du kannst es dir aussuchen, entweder du bezahlst jetzt sofort alles, oder du arbeitest es ab.«
Madan öffnet den Mund, aber außer einem hohen, heiseren Laut kommt nichts heraus.
»Oh nein! Ein Stummer!«
Madan schüttelt den Kopf und versucht es aufs neue, bringt aber wieder nur ein schrilles Krächzen hervor.
Ram Khan seufzt. Warum hat er nur immer Pech? Alle Leute im Basar haben junge Gehilfen. Da findet er endlich einen, der nichts kostet, und es ist ein Schwachsinniger. Madan zupft an seinem Ärmel. Der Schneider würde ihm am liebsten noch eine Ohrfeige verpassen, aber dann sieht er, daß der Junge auf den Stapel zeigt und lächelt.
»So, du willst also arbeiten, na, da hast du aber Glück gehabt, es sieht nämlich nicht so aus, als ob du Geld hättest.« Ram Khan, der noch nie einen Gehilfen hatte, merkt plötzlich, daß er nun ein wichtigerer Mann ist. Er zeigt auf die Kiste. »Das ist dein Platz.«
Madan blickt in die Kiste, wenn er die Beine anzieht, paßt er genau rein.
»Wenn ich rufe, kommst du, wenn ich dich nicht brauche, läßt du die Tür zu.«
Madan, der nach den langen, schlaflosen Nächten allein auf der Straße keinen besseren Platz hätte finden können, kriecht sofort in die Kiste.
Ram Khan sieht erstaunt zu, er hatte Widerstand erwartet, hatte gedacht, er müsse dem Kind noch eine scheuern, bevor es in das Gehäuse krabbeln würde. »Du kommst nur raus, wenn ich es dir sage«, betont er noch einmal und schiebt die Tür zu.
Madan drückt die klapprige Tür gleich wieder auf. Bevor Ram Khan losschimpfen kann, zeigt er auf den kleinen Topf, der noch immer hinter dem Schemel auf dem Boden steht.
»Nimm nur, futter ihn leer.«
Madan schnappt sich den Topf, nimmt ihn mit in die Kiste und schließt die Tür.
Es ist gemütlich in dem kleinen, dunklen Raum. Die Geräusche von draußen dringen nur gedämpft zu ihm. Er hält den Topf zwischen den Knien. Was er da ißt, kann er nicht sehen, das bißchen Licht, das durch den Türspalt einfällt, genügt nicht, um etwas zu erkennen. Es interessiert ihn aber auch nicht, er ißt, nein, er schlingt das Essen in sich hinein. Viel zu schnell ist es alle. Er hätte gern noch einen ganzen Topf voll, aber er weiß, daß er warten muß, bis der Chef ihm wieder was gibt. Er leckt den Topf sauber. Dann stellt er ihn zwischen seine hochgezogenen Beine und wartet. Er weiß nicht genau, worauf, aber er weiß, daß der Mann wütend werden wird, wenn er jetzt das Türchen aufmacht. Madan will überhaupt nicht raus. Er ist froh, daß er in der Kiste sitzen kann, wo er sich sicher fühlt und wo ihn niemand sieht. Er hört und fühlt das Schnurren der Nähmaschine. Der Bretterboden, auf dem
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