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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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du nicht möchtest! Ich will nicht tanzen, ich will diese fröhliche Menschenmenge nicht sehen, du weißt doch, daß sich all diese ›frohen‹ Menschen demnächst wie im Punjab gegenseitig umbringen und vergewaltigen und Dörfer niederbrennen werden. Kapierst du denn nicht, was los ist, hast du keine Augen im Kopf? Hindus und Moslems werden sich gegenseitig ausrotten, bis es keine Inder mehr gibt. Gestern lagen die Straßen hier noch voller Leichen, und du willst tanzen? Wir sollten nicht tanzen, wir sollten fliehen. Ein Fest! Wie kannst du es wagen, von einem Fest zu sprechen! Ein Fest für wen? Für dich? Für mich? Für die?« Er zeigt auf die Straße, wo die johlende Masse vorüberzieht. »Hast du die Nachrichten über die verkohlten Kinderleichen nicht gehört? Ich habe für sie gekämpft. Für sie und für unser Vaterland. Unser Vaterland!« Er breitet die Arme aus. »Ich habe im gottverdammten Dschungel gekämpft, ohne Regeln, ohne Gesetze. Ich kenne die Menschen. Ich weiß, wie sie in Wirklichkeit sind. Ich weiß, wie verkohlte Leichen aussehen, wie sie riechen. Ich weiß, wozu eine Menschenmenge fähig ist. Ich weiß, warum sie singen. Ich kenne ihre Lieder. Ich kenne sie besser als jeder andere. Ich will sie nie mehr hören. Nie mehr. Wenn wir nicht fortgehen, sehen sie uns morgen als Parasiten. Sie werden uns ermorden. Hier in diesem Zimmer. Auf diesem Bett! Geh du nur feiern, laß dir die Gin-Tonics im Club schmecken und tanz wie ein kopfloses Huhn. Ich bleibe hier.« Er zieht die Bettdecke wieder über sich und rollt sich zusammen.
    Charlotte läßt den Redeschwall wie eine eiskalte Dusche über sich niedergehen. Trotzdem hat die Sturzflut nicht den beabsichtigten Effekt. Sie läßt die Worte langsam auf sich wirken. Zum ersten Mal, seit sie ihn kennt, hat er über seine Kriegserlebnisse gesprochen. Über seine verborgenen Ängste. Am liebsten würde sie ihn weiter ausforschen, ihm sagen, daß er seine Vergangenheit mit ihr teilen kann, aber der ihr zugewandte Rücken signalisiert ihr, daß sie gehen soll. Trotzdem bleibt sie sitzen, sie sieht, wie schnell er atmet, und sie blickt auf seine Füße voller Narben, die unter dem Laken hervorragen. »Wohin möchtest du?« fragt sie leise. »Zurück nach England?«

1947
Grand Palace
     
     
     
    Vor dem Palast stehen Tausende Menschen, und die Masse wächst noch immer an. Die Nachricht, der Maharadscha verteile Essen, hat sich bis in weit entfernte Dörfer herumgesprochen. Schon seit dem frühen Morgen füllt sich der Platz stetig. Heute können alle öffentlichen Verkehrsmittel in Indien kostenlos benutzt werden. Immer mehr Menschen versuchen zum Palast zu gelangen. Viele der johlenden Männer tragen ein Gandhi- Topi auf dem Kopf. Er ist ihr Held, aber sie rufen den Namen des Maharadschas und jubeln über Indiens Unabhängigkeit.
    Aus dem Fenster des Frauengemachs blickt Chutki auf die wuselnde Menge. Sie hält ihren kleinen Bruder in den Armen. Er ist wieder krank. Er hustet und hat Fieber. Sie wünscht sich, daß Harris Sahib hier wäre. Er weiß immer, wie er Probleme lösen muß. Er fürchtet sich nicht vor Fieberschüben und Hustenanfällen. Er weiß immer und für alles eine Lösung. Ihre Schwestern und Tanten sind alle in den großen Saal gegangen. Heute ist ein Fest, alle sind unten, außer Tante Geeta, die taub und halb blind ist und wie jeden Tag auf einem Sofa liegt und schläft. Nicht mal die Punkah-wallah ist noch im Zimmer. Chutki legt das Baby neben die alte Frau, der kleine Junge wimmert und hustet, aber sie wird nicht wach. Aus einer Schublade nimmt sie eine Kerze, Streichhölzer und ein Räucherstäbchen. Dann geht sie in das große Badezimmer, das leer ist. Von einem Regal nimmt sie eine Flasche Eau de Cologne und einen Wattebausch und wickelt die Sachen in ein Handtuch. Aus dem Badezimmer geht sie zurück in den Flur. Am Ende des Ganges stößt sie die schwere Tür auf, die zu den Räumen ihres Vaters führt. Hier riecht es nach Tabak und Kaffee. Sie klopft an die Tür seines Arbeitszimmers, und als sich nichts regt, öffnet sie die Tür leise und schleicht hinein. Auf dem Schreibtisch mitten im Zimmer steht eine große Kiste mit Zigarren. Sie nimmt zwei davon heraus. Im Badezimmer des Vaters findet sie ein Messer, das sehr scharf ist, und versteckt es in ihrem Sari. Schnell läuft sie durch den langen Flur, die Treppe hinauf zu den Werkstätten. Unterwegs sieht sie keinen der Feger oder anderen Dienstboten bei der Arbeit.
    Chutki

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