Warten auf den Monsun
erschrickt, als sie die Tür öffnet, der Darsi sitzt an seinem gewohnten Platz an der Nähmaschine. »Gehen Sie nicht zum Fest? Es ist für alle, hat mein Vater gesagt.«
Er blickt besorgt auf die üppig bestickte Jacke, die auf seinem Schoß liegt, sticht die Nadel wieder in den Stoff und seufzt: »Das hier ist für das Fest.«
»Haben Sie ein paar Nadeln für mich?«
Der Darsi zeigt auf eine Schale. »Nimm dir welche raus.«
Sie rennt in die Frauengemächer zurück und stopft die Sachen zu den anderen Dingen in das Handtuch. Im großen Zimmer schnarcht die alte Geeta, und auch das Baby ist nicht aufgewacht. Sanft nimmt sie den Säugling hoch. Das Kind wird wach und beginnt zu husten. »Still, ganz still, ich mache dich gesund«, sagt sie beruhigend. Sie läuft ins Badezimmer und legt den kleinen Jungen auf den Boden. Die kühlen Fliesen lassen ihn kurz erschrecken, aber das hohe Fieber gewinnt schnell wieder die Oberhand. Sie breitet das Handtuch aus und legt alle Sachen in eine Reihe. Sie zündet die Kerze an, tropft etwas Wachs auf den Boden und stellt die Kerze hin. Dann zündet sie das Räucherstäbchen an und legt es auf den Rand der Wanne. Durch das offene Fenster hört sie das »India sindabad!« – den Schrei, der schon seit Wochen durch die Straßen und Dörfer schallt. Sie kniet sich vor das Kind, schließt die Augen und faltet die Hände vor der Brust. Ganz leise, fast unhörbar, beginnt sie zu singen. Ein nasales, monotones Lied. Das Baby weint leise. Sie legt ihm die Hände auf den Bauch und singt weiter. Das Weinen hört auf. Sie tränkt etwas Watte in Eau de Cologne und reibt die kleinen Füße und Hände ein, ohne mit ihrem Gesang aufzuhören. Sie nimmt eine Nadel, erhitzt sie über der Flamme und sticht sie dann ganz langsam in die Fußsohle des Kindes, das sofort laut schreit und strampelt. Mit einer Hand drückt sie die zappelnden Beine auf den Boden. Sie hört kurz auf zu singen. »Sei still, ich tu das für dich, dann geht Mamas Fluch über dich weg, sei still …« Das Baby beginnt zu kreischen. Sie nimmt das Messer und hält es über die Flamme. »Du wirst doch glücklich werden. Wenn sie stirbt.« Sie dreht das Messer in der Flamme. Vom Flur her hört sie Frauenstimmen, sie sieht, daß sie die Tür nicht abgeschlossen hat. Schnell bläst sie die Kerze aus, wirft ein Handtuch über die Sachen, zieht dem Baby die Nadel aus dem Fuß und nimmt es auf den Arm. Die Tür geht auf.
»Ach, hier bist du! Kommst du? Es hat angefangen.«
»Ja, ich komme gleich, will dem Kleinen eben noch die Windeln wechseln.«
»Um den kleinen Plärrer kann sich doch wohl die Ayah kümmern?«
»Heute ist ein Fest für alle, also auch für sie.«
»Wie lieb du doch bist.«
1952
Bombay
»Was trödelst du noch herum, du kleine Ratte, zieh die Hose an.« Ram Khan blickt aus seinem baufälligen Verschlag in einer Seitengasse des Basars auf Madan nieder. Der läßt sich das nicht zweimal sagen und schlüpft blitzschnell in die blaue Hose. »Hier.« Der knurrige Schneider reicht ihm das Hemd, dessen Kragen er flicken muß. Der überraschte Junge schickt sich an, das viel zu große Kleidungsstück anzuziehen. »He, nicht mit deinen dreckigen Pfoten in das Hemd«, blafft der Mann, »sonst kriegt es noch Blutflecke! Nein, arbeiten sollst du, du hast eine Hose von mir gekauft, und die mußt du bezahlen, du glaubst doch wohl nicht, daß ich die Moschee oder so was bin, ich kann mich selbst kaum über Wasser halten, und dich schon gar nicht.« Madan guckt auf das Hemd, er hat keine Ahnung, was er damit machen soll. »Auftrennen«, schnauzt Ram Khan ungeduldig, »am Kragen, das siehst du doch, die Naht ist nicht richtig, die muß wieder weg, mit deinen Triefaugen wirst du das ja wohl schaffen.«
Madan sieht sich den Hemdkragen genauer an. Ihm fällt daran nichts auf, nur, daß er kaputt ist, also steckt er den Finger in das Loch und reißt es weiter auf.
»Mach’s nicht noch mehr kaputt, du Idiot!« Ram Khan springt auf, kommt hinter seiner Nähmaschine hervor, knallt dem Jungen eine und reißt ihm das Hemd aus den Händen. »Ich muß es flicken, das siehst du doch wohl!« Er nimmt den Kragen und hält ihn Madan direkt vor die Augen. Ein schwieliger Finger mit einem rissigen Nagel zeigt auf die mißlungene Naht. »Den Faden hier meine ich, der muß weg.« Er drückt Madan das Kleidungsstück wieder in die Hände. »Hier hast du eine Nadel, und jetzt trenn die Naht auf, und wenn ich Blutspritzer darauf
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