Warten auf den Monsun
abzuzweigen? Sie schaltete das Radio wieder an, sie mußte ihre Gedanken unter Kontrolle bekommen, bevor sie sich erneut überschlugen und sie auch in dieser Nacht nicht schlafen konnte. Ihr Lieblingsprogramm mit klassischer Musik hatte den Nachrichtensprecher wieder abgelöst. Sie legte die Hände in den Schoß und lauschte. Ich hätte den Flügel nie verkaufen sollen. Wie dumm ich war! Er war das einzige, was mir half, es hier auszuhalten. Ob ich mir für das Geld, das der Rubin bringt, ein Klavier kaufen kann? Ein ganz altes? Ihre Finger bewegten sich unmerklich. Sie hatte dieses Stück so oft gespielt. Die Lampe über ihrem Kopf knisterte kurz, dann streikten alle Geräte. Die Hitze, die durch den drehenden Ventilator an der Decke auf Abstand gehalten worden war, legte sich wie dicklicher Gelee über sie. Sie suchte die Streichhhölzer, die immer bereitlagen, und zündete eine Kerze an. Ob Hema wieder zu Hause ist, oder muß ich den Sicherungsschalter selber umlegen? Der Gedanke, daß sich die Hauptsicherung im Küchenhaus befand, hielt sie davon ab, aber als sie an den Vorfall im vergangenen Monat dachte, sprang sie auf und eilte doch in die Küche.
Er arbeitete beim Schein einer Kerze. Der Goldbrokat schimmerte zwischen seinen Fingern. Ein roséfarbenes Kleid hing an einer Schnur an der Decke und drehte sich langsam. Während Charlotte mit der Taschenlampe in den Zählerkasten leuchtete, blickte sie auf die Gestalt, die sich über den Tisch beugte. Irgendwas ist mit ihm. Etwas, was ich vorher nicht gesehen habe. Sein Gesicht, die Art, wie er dasteht. Oder ist es sein Geruch? Vorsichtig schnupperte sie. Sie erschrak über sich selbst und beugte sich mit einem Ruck zum Sicherungskasten. Mit einem Blick sah sie, daß nicht die Sicherungen das Problem waren, sondern daß im ganzen Viertel der Strom ausgefallen sein mußte. Sie würden warten müssen, bis der Gemeindebeamte unten am Hügel den Schalter wieder umlegte. Bei der Hitze könnte das noch Stunden dauern. Trotzdem blieb sie vor dem Sicherungskasten stehen. Ihr Blick glitt wieder zurück zu dem Mann im Nebenzimmer. Sie sah, wie er den Stoff ans Kerzenlicht hielt und das komplizierte, eingewebte Blumenmuster studierte. Er schüttelte den Stoff ein wenig, dann fuhr er mit den Fingerspitzen darüber. Was sucht er? fragte sie sich.
Plötzlich blickte er auf.
Charlotte fühlte sich ertappt und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Der Strom ist ausgefallen. Du mußt eine Weile ohne auskommen.«
Er zuckte mit den Schultern, lächelte und beugte sich wieder über den Tisch.
»Wenn der Butler zurück ist, bitte ich ihn, Abendessen für dich zu kochen.«
Er blickte wieder auf. Seine Augen glänzten.
Wie schlimm muß es sein, dachte sie, wenn man nicht sprechen kann.
Ich verstehe dich auch ohne Worte , dachte er.
»Es ist noch Okra da, magst du das?« fragte sie.
Er nickte.
»Ich hoffe, daß er schnell wiederkommt.«
Wieder zuckte er leicht mit den Schultern. Ich habe noch keinen Hunger.
»Ich versteh es nicht, er müßte längst zurück sein.«
Nur mit der Ruhe, ich habe noch ein paar Stunden zu tun, das Essen hat keine Eile.
»Ich will dich nicht länger von der Arbeit abhalten, du hast noch so viel zu tun, wenn du etwas brauchst, melde dich.«
Du hast mir noch nicht den Stoff für dein Kleid gegeben.
»Ich muß den Stoff für mein Kleid noch kaufen, fällt mir gerade ein. Ich mach das im Laufe der Woche.«
Nein, kauf keinen Stoff. Such einen, der schon da ist und den du magst.
»Aber es hat ja offenbar keine Eile. Hier liegen noch so viele Stoffe, die zuerst dran sind.« Sie schaute auf den Stapel auf dem Schränkchen an der Wand. »Ich weiß einfach noch nicht, was ich will.«
Aber ich weiß es. Gib mir einen Stoff, der dir lieb ist, und ich nähe dir ein Kleid, wie du noch nie eines getragen hast.
»Ich wollte dir einen Stoff geben, den ich noch hatte, aber er war ganz zerfallen«, sagte sie leise.
Such weiter. Du wirst ihn finden.
Ein leises Knirschen, ein puffendes Geräusch, und das Licht ging wieder an. Ihre Gesichter waren plötzlich grell beleuchtet. Sie sahen sich erschrocken an. Beide hatten die unerwartet intime Atmosphäre gespürt. Nervös fuhr sich Charlotte mit der Hand durchs Haar, verabschiedete sich hastig und lief schnell zurück zum großen Haus. Sie schaute zum Himmel und suchte nach Wolken – Bitte laß es regnen! – und ging ins Haus.
Er blies die Kerze aus. Im Licht der Lampe wirkte der Stoff nicht
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