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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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bewahrt er sein Geld auf. Abbas hat für seine Münzen an der Seite des »lahmen Beins« eine tiefe Tasche in der Hose, so daß man nichts klimpern hört, wenn er hinkt. Aber Gürtel und Tasche sind leer. Ohne einander anzusehen, humpeln sie zu einem Geschäftsmann, der aus einem Taxi steigt. »Bakschisch …«, ächzt Abbas und schielt so stark, daß er nicht weiß, ob ein Mann aus dem Auto aussteigt oder ob es zwei sind.
    Der Mann würdigt die bettelnden Kinder keines Blickes, sein einziges Ziel ist die Tür des Restaurants, aus der köstliche Essensdüfte strömen. Lamm-Curry , denkt er, oder soll ich heute Shrimp-Curry bestellen?
    Madan, der, seitdem er seine Schwester verloren hat, selten einen vollen Magen hatte, zupft den Mann am Ärmel. Auch er bettelt um Bakschisch, aber bei ihm klingt es wie ein Tierschrei. Der Mann schreckt aus seinen kulinarischen Phantasien auf und blickt erschrocken zur Seite, als er die furchterregenden Laute hört. Voller Abscheu stößt er Madan von sich weg und stopft, ohne ihn noch einmal anzusehen, eine Münze in die ausgestreckte Hand; im Bruchteil einer Sekunde verschwindet das Geld im Gürtel um Madans Taille.
    Abbas hat Madan klargemacht, daß die Laute, die er beim Versuch zu sprechen ausstößt, beim Betteln phantastisch helfen. Es funktioniert fast noch besser als das Hinken und Schielen. Die Leute geben nun einmal einer verkrüppelten Elendsgestalt mehr als einem normalen Jungen, ohne zu wissen, wer am hungrigsten ist. Also stößt Madan den ganzen Tag seine abschreckenden Schreie aus. Er hat entdeckt, daß Frauen am meisten geben, wenn er hohe Töne von sich gibt, ein Geräusch, das an ein Zicklein erinnert, das seine Mutter verloren hat. Männer sind freigiebiger, wenn er tiefere Töne hervorbringt, die an das Geröchel denken lassen, das Helden ausstoßen, denen im Film die Kehle durchgeschnitten wird. Madan hat auch gemerkt, daß er von älteren Frauen mehr Geld bekommt, wenn er den Ton etwas in die Länge zieht, während er bei jungen Frauen wiederum kürzer sein und leiser klingen muß. Und er weiß, daß Männer sofort Geld geben, wenn er sich ihnen unerwartet und vor allem von hinten nähert, und daß er das bei Frauen unbedingt vermeiden muß. Alle diese Techniken kann er nicht an Abbas weitergeben, also wendet er sie einfach an und probiert ständig etwas Neues aus, um zu sehen, ob er dann mehr bekommt.
    Ihm knurrt der Magen, gestern hat keiner seiner Tricks funktioniert, und sie haben kaum etwas eingenommen. Er denkt nicht an den Mann von soeben, der in einer halben Stunde mit vollem Bauch aus dem Lokal kommen wird. Seine Augen suchen die Straße nach dem nächsten Opfer ab. Geschrei ertönt, und eine Frau mit einem Eimer auf dem Kopf kommt aus einer Gasse gerannt. »Hilfe! Hilfe!« ruft sie. Abbas sieht Madan an, und Madan sieht Abbas an. Gestern abend schrie die Besitzerin des Gemüseladens auch so laut, als sie eine Mohrrübe gestohlen hatten, aber diesmal sind sie unschuldig. Die Frau hört nicht auf zu kreischen und läuft auf sie zu. »Hilfe!« Die Jungen fragen sich, hinter wem sie herrennt, sie sind sich beide sicher, daß niemand mit einem Apfel oder einer Birne an ihnen vorbeigeflitzt ist. »Hilfe!« Der Wassereimer fällt zu Boden, aber die Frau rennt weiter.
    Aus der Gasse kommt ein kleiner Straßenköter gerannt. Die schreiende Frau ist in einem der Häuser verschwunden. Der Hund, vor dem sie solche Angst hatte, ist ein nervöses, mageres Tier, das hechelnd auf die Jungen zuläuft. Abbas, der oft erzählt hat, daß seine einzige Erinnerung an früher sein Lieblingshund Bala ist, der von einem Polizeiauto überfahren wurde, vergißt seine schiefe Hüfte und den lahmen Fuß und hockt sich hin. Der Hund kommt zu ihm.
    Er hat Schaum vorm Maul! schreit Madan, aber sein Freund deutet die Panikschreie als Ermutigung. Nicht anfassen, abhauen! Madan springt hinter einen Baum. Sein Freund breitet die Arme aus. Der Hund springt an ihm hoch und beißt ihn. Ungläubig stößt Abbas das räudige Tier von sich weg. Sein Ohr beginnt heftig zu bluten. Jetzt erst sieht er nicht nur die ängstlichen Augen des Hundes und den schief gehaltenen Kopf, sondern auch den Schaum um das Maul. Er nimmt den Schirmstock, den Madan in der Eile hat fallen lassen, und schlägt den Hund. Das Tier duckt sich. Er schlägt noch einmal. Madan ruft, er soll aufhören, aber seine wortlosen Schreie scheinen seinen Freund, der zwei Jahre älter und stärker ist, nur anzufeuern. Mit der Kraft

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