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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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losziehen und wetteifern, wer am besten hinken kann. Aber Bruder Augustinus ist viel zu dick, er würde gar nicht durch den Spalt passen. Nicht mal mit dem Kopf. Madans Blick fällt auf die kleinen Schädel, die er weggeschoben hat. Sie sehen ein bißchen so aus wie die Schädel, die bei Bruder Augustinus auf dem Bücherbord standen. Ihre Nasen zeigen zueinander. Als seien es zwei Freunde. Er nimmt sie in die Hand.
    Ich bin eine Ratte, läßt er die eine Ratte sagen. Und ich bin eine andere Ratte, läßt er den zweiten kleinen Totenkopf antworten.
    Abbas beginnt zu strahlen, er versteht genau, was sein stummer Freund mit seinen heiseren, hohen Lauten erzählt: DER JUNGE LEBTE MIT SEINEN ELTERN IN EINEM SCHÖNEN DORF .
    Madan spielt mit den Ratten wie mit zwei Figuren in einem Puppentheater und läßt sie nebeneinanderher gehen, während er weiterredet. Es waren sehr starke Ratten, die sich vor niemand fürchteten.
    DER VATER WAR EIN BAUER UND HATTE EINE KUH UND EINE ZIEGE , übersetzt Abbas seine Worte.
    Sie hatten abgemacht, daß sie immer zusammenbleiben würden.
    DIE MUTTER MACHTE DIE LECKERSTEN CHAPATI IN DER GANZEN GEGEND .
    Weil sie beide niemanden mehr hatten.
    SIE WAREN GLÜCKLICH UND ARBEITETEN HART AUF DEM LAND .
    Einer paßte auf den anderen auf, und wenn sie etwas zu essen fanden, teilten sie es sich.
    EINES TAGES WAR DER BRUNNEN , DER IN DER MITTE DES DORFES STAND , AUSGETROCKNET .
    Manchmal lag nämlich einfach so ein Apfel auf einer Kiste.
    DANN BRACHTE DER POSTBOTE EINEN AMTLICHEN BRIEF .
    Oder eine große Birne, die niemand kaufen wollte.
    DER LEHRER LAS DEN LANGEN BRIEF VOR .
    An einem warmen Tag stibitzten sie eine Mango.
    WO IHR DORF WAR , SOLLTE EIN DAMM GEBAUT WERDEN .
    Die war so herrlich süß.
    ALLE MUSSTEN WEGZIEHEN .
    Süßer als der süßeste Zucker.
    ABER EIN NEUES HAUS BEKAMEN SIE NICHT .
    Sie würden eine Mangofarm beginnen.
    DER VATER DE S JUNGEN REDETE NICHT MEHR .
    Zusammen würden sie einen großen Baum besitzen.
    ER KONNTE NUR NOCH GANZ VIEL NACHDENKEN .
    Voll herrlicher Mangos.
    DANN WUSSTE ER DIE LÖSUNG !
    Hundert Millionen Mangos.
    Madan leckt sich über die Lippen bei dem Gedanken an ihren großen Baum voller Mangos, unter dem sie zu zweit schlafen würden, so daß ihnen die Mangos direkt in den Mund fallen konnten. Auch Abbas fährt sich mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen. Er fröstelt. Eisige Kälte fährt durch seine Glieder und durchschneidet seine Muskeln, als seien es unnütze Stricke. Er lechzt nach Flüssigkeit, aber der Gedanke an Wasser drückt ihm zugleich die Kehle zu. Seine Lippen schnappen nach Luft, doch die Öffnung, durch die er immer geatmet hat, schließt sich, um nie wieder aufzugehen. Seine Kehle, durch die er rufen und singen konnte, ist dicht. Er zuckt und reckt den Kopf und den Hals, um sich Raum zu verschaffen, um Luft zu bekommen, um zu atmen.
    Madan läßt seine beiden Rattenhelden erschrocken fallen. Er drückt seinen Freund zurück aufs Bett, aber Abbas schlägt zuckend um sich. Jede Faser, jede Sehne, jeder Muskel in seinem schmächtigen Körper verkrampft sich. Farbloser, schaumiger Speichel quillt aus dem Mund. »Was … was …« wimmert er.
    Madan ruft um Hilfe, es muß jemand kommen, er kann seinen Freund nicht allein lassen. Warum kommt niemand? Hört ihn denn keiner?
    Abbas schlägt den Kopf nach hinten, verzweifelt versucht er, Luft einzusaugen. Seine Arme zeigen zum Himmel. Die blaue Linie über ihnen bewegt sich nicht. Nur Abbas bewegt sich. Noch ein Mal.
     
    Madan hat alle Scherben beseitigt und seinen Freund so gut wie möglich gebettet, die Arme und Beine wieder gestreckt. Den Mund und die Augen hat er ihm geschlossen. Sein eigenes Hemd hat er zu einem Kopfkissen gerollt, und das Tuch, das ihm als Gürtel diente, hat er über den immer kälter werdenden Körper gebreitet. Er wird zu Bruder Franciscus gehen und fragen, ob der ihm helfen will, Abbas hier herauszuholen.
    Er sieht sich noch einmal nach seinem Freund um, hält den Atem an und zwängt sich durch den Spalt nach draußen.
     
    Niemand beachtet den schmutzigen kleinen Jungen, der barfuß läuft und nur eine zerrissene kurze Hose trägt. Er sieht sich nicht um, seine Beine bewegen sich mechanisch. Er hört die Straßenbahn nicht, die wütend klingelt, als er unvermutet die Gleise überquert, er sieht den Handwagen nicht, der ihn fast überrollt, er riecht nicht den Duft des frisch gebackenen Brotes, der aus der Ladentür strömt, er spürt nur die Kälte in

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