Warten auf den Monsun
sich.
Er kann sich nicht daran erinnern, wo Bruder Franciscus wohnt. Er weiß auch nicht mehr, wo die Werkstatt von Ram Khan ist. Er hat sogar vergessen, wo der Hafen liegt, in dem er Abbas zurückgelassen hat. Er läuft einfach immer weiter. Er kann nicht aufhören zu laufen, obwohl seine Beine müde sind und ihm die Füße weh tun. Nichts ist vergleichbar mit den Schmerzen, die Abbas erlitten hat. Er läuft durch Straßen, in denen er noch nie gewesen ist, aber er nimmt es nicht wahr. Die Häuser, an denen er vorbeikommt, werden erst immer größer, dann wieder kleiner. Er merkt nicht, daß die Straßenbahnen verschwunden sind und die Abstände zwischen den Häusern größer werden. Er hört nicht das Krächzen des Raben und das Meckern der Ziege. Er läuft.
Ohne Pause läuft er weiter und weiter. Aus den Häusern neben der Straße sind Baracken und Hütten geworden. Überall spielen Kinder, und in den Abfallhaufen zwischen den Bretterbuden schnüffeln Tiere. Er geht weiter. Seine Beine wollen nicht anhalten. Niemand kann ihn stoppen. Die Sonne ist längst untergegangen. Die Abendkühle hat sich auch auf die Ränder der Stadt gesenkt. Vor den Türen werden Feuer entzündet, und Mütter kochen Essen. Er läuft weiter. Niemand fragt ihn, ob er Hunger hat. Er selbst hat es vergessen. Er möchte sich in der kleinen Kiste verkriechen, und Ram Khan müßte den Verschlag abschließen. Er möchte sich im Bett im Schlafsaal der Mönche einigeln. Er möchte sich in dem Gang unterm Bahnhof verstecken. Er möchte, daß Abbas da ist. Neben ihm, so wie jeden Tag. Er möchte, daß sie hinken und Geld verdienen. Er möchte sich wie jeden Abend an Abbas schmiegen und einschlafen. Er möchte einen Apfel mit seinem Freund teilen.
Im Licht einer Gaslaterne steht ein Stand mit Gemüse und Obst. Der Stapel Äpfel ist sehr hoch. Er nimmt sich den schönsten Apfel und läuft weiter. Ein großer, roter Apfel. Abbas wird begeistert sein. Der Apfel riecht süß und aromatisch. Er spürt, wie die Speicheldrüsen in seinem trockenen Mund Flüssigkeit absondern, aber er beißt nicht in die saftige Frucht.
»Der da!« ruft eine Stimme. Er wird nach hinten gezogen und in ein Auto geworfen. Den wütenden Ladenbesitzer sieht er nicht. Den Polizisten, der ihn ins Auto stößt, spürt er nicht. Die Tür, die zugeknallt wird, hört er nicht. Daß er wegfährt, merkt er nicht. Er umklammert nur den Apfel. Den Apfel für Abbas.
1995
Rampur
»Ma’am, der General wünscht Sie zu sehen.« Mit einem halbvollen Schälchen Joghurt in der Hand stand Hema in der Tür des Salons. Er wußte, daß Memsahib zur Zeit nicht gern allein bei ihrem Vater war, aber in der Küche köchelte das Abendessen auf dem Feuer und würde anbrennen, wenn er jetzt nicht zurückging, und wenn Memsahib nicht schnell nach oben lief, würde der General wieder anfangen, auf den Boden zu hämmern, so daß der Staub durch die Ritzen in der Zimmerdecke herabwirbelte, und dann müßte er morgen schon wieder Staub wischen, obwohl er, seit der Darsi im Haus war, fast gar keine Zeit mehr dazu hatte. Also wiederholte er die Bitte des Generals, nun in einem etwas dringlicheren Ton.
Allein zu ihrem Vater zu gehen, war eines der Dinge, denen sie inzwischen mit Schrecken entgegensah. Wenn ein Mann im Zimmer war, egal, ob ein Klempner oder ein Elektriker oder Hema, beherrschte er sich einigermaßen, aber wenn sie mit ihm allein war, wurde er unvorstellbar bösartig. Er konnte so sehr außer sich geraten, daß sie Angst bekam, er würde die Gurte zerreißen.
Sie ging die Treppe hinauf. Es kam nicht mehr oft vor, daß er ausdrücklich nach ihr verlangte. Am Anfang war es täglich vorgekommen. Manchmal mußte sie sechsunddreißig Mal am Tag nach oben eilen, um zu verhindern, daß er alles kurz und klein schlug. Aber seit einiger Zeit war er ruhiger geworden. Er konnte sogar liebenswürdig sein, und sie hatte ihr bis dahin völlig unbekannte Seiten an ihm gesehen.
Sie öffnete die Tür zum Kinderzimmer. Er saß in seinem Rollstuhl mitten im Raum. Über seinem Kopf drehte sich der Ventilator. Er trug nur ein Hemd und eine Pyjamahose. Hema hatte vergessen, ihm den Latz abzunehmen. Seine langen, nutzlosen Füße standen in den alten Sandalen, die an den Fußstützen des Rollstuhls festgeschraubt waren, eine Idee von Hema, nachdem er einmal versucht hatte, aufzustehen, und böse gestürzt war. Er hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Sein Atem ging ruhig und
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