Warten auf den Monsun
regelmäßig, seine Hände lagen bewegungslos auf den Schenkeln. Sie wollte sich umdrehen und wieder gehen, als ihr Blick auf den großen Kleiderschrank fiel. Sie blieb mucksmäuschenstill stehen. Wenn er sie dabei erwischte, daß sie in den Schrank schaute, würde er so rasend werden, daß er sich selbst verletzen könnte, denn obwohl die Ledergurte ihn seit langem an den Rollstuhl fesselten, vergaß er oft, daß sie vorhanden waren. Sie wußte, daß sie nur wenige Sekunden brauchte, um nachzuschauen. Ein rascher Blick würde genügen. Das einzige, was sie wissen wollte, war, ob die Stoffe noch existierten, die damals aus dem alten Schlafzimmer ihrer Mutter, das nun ihr Zimmer war, in diesen Raum gebracht worden waren. Charlotte hatte sich in den ersten Jahren, in denen sie zusammen mit ihrem Vater in dem Haus wohnte, kaum für die alten Sachen interessiert, die überall und nirgends aufbewahrt wurden. In den letzten Jahren, seit sie immer mehr spürten, daß ihre Pension noch die gleiche war wie vor fünfundzwanzig Jahren, hatte sie den gesamten Hausrat inspiziert und dafür gesorgt, daß keine neuen Dinge angeschafft wurden, wenn es noch alte gab, die es auch taten. Auf leisen Sohlen ging sie zum Schrank.
Der Dielenboden knarrte. Sie wunderte sich ein wenig, daß ihr Vater nicht hochschreckte und ein Donnerwetter veranstaltete. Seine Atemzüge blieben ruhig, und sie schlich weiter.
»Ich muß mal«, ertönte es plötzlich hinter ihr. Es wäre auch ein zu großer Zufall gewesen, wenn es ihr bei der ersten guten Gelegenheit gelungen wäre, in den Schrank zu blicken. Ohne in der Bewegung innezuhalten, drehte sie sich um.
»Der Topf steht unter deinem Stuhl, Vater.«
»Ich will nicht, daß du im Zimmer bist, wenn ich pinkle.«
»Du hattest mich rufen lassen.«
»Ich habe dich überhaupt nicht rufen lassen. Ich muß pinkeln, und da will ich dich nicht dabeihaben.«
»Ich geh schon, Vater.«
»Du führst was im Schilde. Ich hab’s an deinem Gang gemerkt.«
»Ich wollte dich nicht wecken.«
»Ich habe nicht geschlafen.«
»Das dachte ich aber, deshalb war ich ganz leise.«
»Du warst nicht nur leise, du bist geschlichen. Du wolltest etwas aus meinem Schrank klauen.«
»Nein, Vater, ich wollte dich nur nicht wecken.«
»Warum bist du dann hier?«
»Weil du mich hast rufen lassen.«
»Ich habe dich nicht rufen lassen.«
»Dann gehe ich eben wieder.«
»Nein, bleib. Ich habe doch nicht gesagt, daß du gehen kannst.«
»Ich dachte, du müßtest mal.«
»Ja, muß ich ja auch.«
»Deshalb wolltest du doch, daß ich gehe?«
»Hast du eigentlich schon mal einen Mann pinkeln sehen?«
»Vater!«
»Dein Mann, hat der dich nach dieser einen Nacht noch jemals beritten?«
Charlotte starrte ihren Vater entgeistert an. »Er … er war ein phantastischer Mann, das weißt du, und ein sehr guter Arzt. Es ist schade, daß er nicht mehr lebt, er hätte bestimmt gut für dich gesorgt.«
»Der! Diese Memme! Der nicht mal anständig operieren konnte, der wie eine Katze gezittert hat, wenn man das Wort ›Krieg‹ in den Mund nahm, der sich totgeflennt hat. Der!«
»Ich gehe jetzt runter. Brauchst du noch irgendwas?«
»Geh ruhig wieder runter und spiel dich als gnädige Frau auf.«
»Tschüs, Vater.« Charlotte zog die Tür mit einem Knall zu und schloß sie ab. Am liebsten hätte sie den Schlüssel weggeworfen, so daß ihn niemand mehr finden würde.
1976
Rampur
Liebe Patricia, lieber Donald,
was für eine wunderbare Neuigkeit habt Ihr mir gerade am Telefon erzählt! Endlich! Wir hatten es schon seit Tagen erwartet und fingen schon fast zu zweifeln an, ob es noch kommen würde. Ein Mädchen, und mit so einem schönen Namen, Isabella! Habt Ihr den Namen in Portugal gehört? Ich schicke Euch ein Baby-Cape, das ich extra für Euer Kind gestrickt habe, aus Angorawolle vom Himalaja. Ich hoffe, daß es Euch gefällt und daß Isabella es oft tragen wird.
Einen Kuß für meine aller-allerliebste Nichte, von ihrer stolzen Tante Charlotte
PS : Schickt mir bitte bald ein Foto!
1952
Bombay
Die Morgensonne scheint, und eine Straßenbahn klingelt. Peter weiß nicht, ob es die Sonne, das Geräusch der Tram, das neue Haus oder die neuen Kleider sind, die Charlotte ihm gestern gekauft hat, aber er fühlt sich ruhig und verspürt zum ersten Mal nicht wie sonst den Drang, ins Krankenhaus zu eilen. Der Kaffee, den er sich bestellt hat, schmeckt herrlich, und die Aussicht auf den Hafen erinnert ihn
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