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Warten auf den Monsun

Warten auf den Monsun

Titel: Warten auf den Monsun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Threes Anna
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bis die Bäume dichter beisammenstehen und der Geruch des Dschungels ihn betäubt. Wieder das zischende Geräusch. Eine Kugel pfeift haarscharf an seinem Kopf vorbei. Er ist froh, daß es aus ist, daß sie ihn gesehen haben, daß die Qual des Fliehens ein Ende hat. Er will nicht an das denken, was ihm bevorsteht. Jetzt ist er dran, das weiß er. Leichen im Dschungel machen weniger Probleme als ein verletzter Kriegsgefangener in einem Lager. Er will sich aufrichten und die Hände hochnehmen, doch seine Beine versagen ihm den Dienst. Er hört keine Befehle oder Schreie. Nichts passiert.
    So bleibt er minutenlang liegen. Warum kommen sie nicht, die Kugel war doch für ihn bestimmt? Ein dröhnender Knall, der Boden zittert leicht. Der Einschlag ist weit weg. Wo sind sie? Warum erschießen sie ihn nicht?
    Peter weiß, daß er weglaufen muß, daß er nicht länger abwarten darf, daß sie ihn nicht entdeckt haben. Er kriecht weiter. Weg von dem Ort, an dem er mehr als nur seinen kleinen Finger verlor. Über Wurzelstrünke und zwischen dicken Stämmen jahrhundertealter Bäume. Durch Dornengebüsch und sumpfige Gräben. Aber wenn er seine Wunden nicht behandelt, kann er auch gleich liegen bleiben.
    Keuchend setzt er sich an einen Baumstamm. Das Blätterdach ist so dicht, daß die Baumwipfel nicht zu sehen sind. Mit zitternden Fingern fummelt er den Faden ins Nadelöhr, steckt sich ein zusammengeknülltes Tuch in den Mund und sticht mit der Nadel ins Fleisch seiner Hand, da, wo der kleine Finger gewesen war. Der kleine Finger, der keines der Leben gerettet hat, der ihn nicht von dem Wahnsinn erlöst hat, von der Grausamkeit und vom Unrecht. Er will nicht mehr an die Gesichter denken. An die Panik in den Augen. Den Befehl des älteren Mannes. Mit einem Ruck zieht er den Faden durch sein Fleisch. Er beißt so fest auf den Stoff, daß er seine Kieferknochen knirschen hört. Er überläßt sich nicht dem Schleier, der vor seinen Augen erscheint. Er sticht die Nadel wieder in seine Hand und zieht den Faden hindurch, und wieder, bis die Wunde vernäht ist. Dann beißt er den Faden durch, zieht sich das Tuch aus dem Mund reißt es in zwei Stücke. Er bindet eines davon um die Hand und das andere um die klaffende Wunde unterm Knie.
     
    Es ist dunkel. Die Detonationen haben aufgehört, und nachdem er eine Stunde lang gekrochen ist, ist er mit großer Mühe aufgestanden. Schmerz fühlt sich nicht mehr wie Schmerz an. Das Wort hat seinen Sinn verloren. Er hat keinen Menschen mehr gesehen oder gehört. Der Weg, den er sich bahnt, führt durch den Wald bergan. Am Licht der Sterne sieht er, daß der Bewuchs lichter wird. Bevor es hell wird, will er wieder zwischen den schützenden Bäumen sein. Er hat keine Ahnung, ob er in die richtige Richtung geht, ob er sich vom Feind entfernt oder auf ihn zu hinkt.
    Der Geruch von verwesendem Fleisch will nicht aus seiner Nase weichen, und immer wieder hat er das Bild vor Augen, wie die Männer einer nach dem anderen erschossen wurden. Den bleischweren Rucksack, die pochenden und brennenden Wunden, Hunger und Durst, das alles spürt er nicht. Strauchelnd irrt er weiter. Zweige schlagen ihm ins Gesicht. Manchmal bleibt er an irgend etwas hängen, immer wieder stürzt er, und seine Hände oder Füße sinken tief in ein sumpfiges Erdloch ein. Tausende Moskitos haben den Angriff auf ihn eröffnet. Sie stechen ihn in die Ohren, die Augenlider, den Nacken, die Arme und Knöchel, jedes Fleckchen Haut, das nicht von dem khakifarbenen Uniformstoff bedeckt ist, wird belagert. Als er zum wiederholten Mal hinfällt, bleibt er am Boden sitzen. Er streift mühsam den Rucksack ab und knöpft die Klappe auf. Hier im Dunkel der Nacht glaubt er sich sicher. Seine Hand gleitet in den Rucksack. Was darin ist, ist feucht und glatt. Er zieht es heraus. Der Geruch ist unverkennbar.
     
    Er wacht auf, er mußte unmerklich eingeschlafen sein. Neben ihm liegt das große Stück Fleisch. Die Mücken haben sich zurückgezogen, aber unzählige Fliegen haben ihn gefunden. Auf dem blutigen Fleischklumpen wimmelt es von ihnen. Das mit leichter Übelkeit verbundene Hungergefühl, das ihm seit Wochen zusetzt, ist nicht mehr da, es ist einer neuen, unbekannten Empfindung gewichen, es fühlt sich mehr so an wie ein Tritt in den Bauch und nicht wie ein leerer Magen. Seine Augenlider sind von den Mückenstichen geschwollen. Der süßliche Geruch des verwesenden Fleisches überdeckt alles andere. Er erinnert sich daran, wie ihm einer der

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