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Warum aendert sich alles

Titel: Warum aendert sich alles Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Brandt
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geförderte und von den Humanisten erneuerte Mythos, daß die Kultur eigentlich mit Homer beginnt, ist in bestimmter Hinsicht vielleicht nicht falsch, aber er ist zu problematisch, um dem Griechischen das Privileg der Protokultursprache zuzugestehen. Mögen die modernen Griechen das Altgriechisch, die Basken das Urbaskische und die Inder Sanskrit lernen, aber warum sollen die Deutschen die Ilias statt des Nibelungenliedes lesen?
    Zu welchem Berufsfeld qualifiziert das Griechische außereinem einzigen: zur Reproduktion des Faches an der Schule und in der Universität. Also: Forget it .
    Man sollte auch nicht verkennen, daß sich das gehobene Bürgertum im Unterricht zweier Sprachen ohne unmittelbaren Nutzen eine Demarkationslinie schuf, die zu privilegierten Positionen in der Gesellschaft berechtigte und so die Mühen der Gymnasien auf überraschende Weise zur klugen Investition werden ließ. Seitdem dieser Bonus kaum noch zählt, ist das Bemühen um den Optativ im Aorist des unregelmäßigen Verbs tithemi (stellen) verlorene Liebesmühe. Die Pfründen in den Kommunen werden nach anderen Kriterien vergeben.
    Und nun?
    Die Argumente, die hier aufgeführt wurden, betrachten das Altgriechische von außen. Das einzige, was dagegen steht, ist ein gut belegbares Faktum: Der Enthusiasmus von Schülern für das Griechische. Ihn gab es bei Hölderlin, und ihn gibt es noch heute ebenso wie den Enthusiasmus für die Musik oder Mathematik oder auch das Nachdenken, das unter dem griechischen Terminus Philosophie bekannt ist.
    Das Griechische hat einen Kick, den andere Sprachen und andere Literaturen nicht kennen und der nur bei der geduldigen Bewältigung der grammatischen und sonstigen Finessen zutage tritt – über diese Praxis zu reden trifft die Sache so wenig wie das Gerede über die anderen genannten Tätigkeiten, die nur durch eine Vorgabe der Natur, durch Unterricht und Praxis zustande kommen, wie im Platonischen Dialog Menon nachzulesen ist. Musiker reden nicht über Musik, sondern musizieren. Durch die sprachlichen Schwierigkeiten erschließen sich der Witz und der Tiefsinn eines antiken Dramas oder der Schriften Platons. Der Geist steckt in dem, was wir zwar im künstlichen Regelwerk der späteren Grammatiker und der Lexika lernen müssen, aber was dann und nur dann für uns sichtbar wird, der Konflikt der Wörter mit ihren Sätzen, das Spiel der Metaphern, die Umbrüche und Rückrufe; die Anspielungen, das alles liegt in den griechischen Texten und wird von Übersetzern notwendigveruntreut. Die Griechen mußten, um zwischen Asien und Europa zu überleben, so schlau wie Odysseus und so profund wie Platon werden; sie betrieben die Aufklärung aus Lebensnot und Passion und waren dadurch hellwach gegenüber allen Versuchungen der geistigen Faulheit und des Fundamentalismus. In diese Werkstätte des kritischen und kreativen Geistes kommt man nur durch das Nadelöhr des Griechischen selbst. Nur hier versteht man den Geist, der in ganz Europa über die Römer, die Kathedralen und die Renaissance bis zu James Joyce und die Europa-Idee selbst nachwirkte, hier liegt das Zentrum neben vielen höchst wichtigen Impulsen und vielen Bagatellen.
    Intelligente Schüler spüren, daß in den griechischen Texten wesentliche Stücke unserer Kultur liegen und daß ihre Begeisterung kein Zufall ist. Und hier liegt ein zweiter Grund für die Erhaltung des Griechischen: Hier liegen die Fundamente, ohne die die europäische Geistesgeschichte unverständlich wird.
    Die bisherigen Griechischstudien waren mitbestimmt von der Gipsfassade des Klassizismus. Wir wissen heute, daß die griechischen Statuen und Tempel bunt waren in den schrillsten Popfarben, daß die Musik dionysisch wild und apollinisch verhalten war, daß Ekstase und Philosophie in der Multikultur der größeren Städte auf der Agora zusammenstießen, daß die wilden und sanft lächelnden Götter den Tag bestimmten. Daher kommen wir.
    Jugend musiziert – Jugend liest Platon, aber wie? Gesucht wird eine Stiftung, die 80 Schüler zu einer zweiwöchigen Platon-Lektüre während der Sommerferien einlädt an einem arkadisch wilden Ort, in gestuften Kursen werden Dialoge gelesen und interpretiert, gutgelaunte und fähige Lehrer/innen und Professor/innen leiten die Kurse, nebenbei kann man schwimmen, Berge besteigen und abends Band 1 von Harry

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