Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
seiner Autobiographie beschrieben sind, aber es gibt auch Ereignisse, die er erst viel später als Teil eines Musters oder eines Themas erkannt haben kann. Der erzählende Charakter, den Van den Hull seinen Memoiren gegeben hat, beruht gerade auf dem, was kein Rohmaterial mehr ist.
Die Themen, die Van den Hull durch Selektion, Deutung und Färbung hervortreten läßt, bewirken noch etwas anderes. Sie führen zu einer Ausdehnung der Zeit. Bei den Kränkungen, die er erfährt, bleibt die Zeit sogar fast stehen, ist der junge Schüler unter dem Blick der lachenden Krijntje wie erstarrt oder klingt das Gelächter der Gouvernanten in seiner Erinnerung genauso laut über den Kanal, daß es plötzlich wieder 3. Mai 1817 ist. Später in seinem Leben ist es die Verliebtheit in Lina, die einen Zeitraum von weniger als zehn Jahren zu »elf langen Jahren« ausdehnt. Das Umgekehrte gilt auch: Wo die Themen allmählich aus seinem Leben wegfallen, scheint die Zeit zu schrumpfen. »Was ferner meine eigene Geschichte betrifft«, schreibt er im vorletzten Kapitel, »darüber ist von 1841 bis 1848 sehr wenig zu erzählen: das eintönige Leben, das ich führte, wurde selten durch irgendeine Besonderheit gekennzeichnet.« Ein einziger Satz für sieben Jahre. Ein paar Zeilen weiter steht der Seufzer: »Stunden, Tage und Monate schienen mir immer mit großer Schnelligkeit zu entfliehen.«
»So stand ich wie ein Verlassener in meiner Geburtsstadt«
Über 1849 gab es wieder mehr zu berichten, wenn auch wenig Gutes. Im Januar stirbt seine Lieblingsschwester Betsy. Sie waren immer zusammen aufgetreten, im Internat und in der Erziehung ihres angenommenen Sohnes. Ihr Tod erschüttert ihn sehr: »Tausendmal gedachte ich allem, woran ich mich dieser 66 Lebensjahre erinnern konnte: wie gerne versetzte ich mich in meine Jugend mit meinen Spielkameraden, die leider alle schon seit so langer Zeit nicht mehr waren, die ich alle überlebt hatte!«
Jetzt, da seine Schwester nicht mehr ist, hat er das Gefühl, allein auf der Welt zu sein. In Haarlem lud ihn niemand ein, gute Freunde »waren längst tot oder umgezogen oder verheiratet, und so stand ich wie ein Verlassener in meiner Geburtsstadt«. Die letzten 20 Seiten der Autobiographie über die vier Jahre bis zu seinem Sechsundsiebzigsten, berichten von einem Leben, das immer einsamer wird. Die einzige Schwester, die ihm noch geblieben ist, bricht sich bei einem Sturz die Kniescheibe und kann ihn nicht mehr besuchen. Eines Tages im Oktober 1849 sieht Van den Hull pfeilschnell Schneeflocken fallen, aber als er verwundert zu Boden schaut, liegt dort kein Schnee; irgend etwas stimmt nicht mit seinen Augen. Ein paar Monate später sind sie so ernstlich entzündet, daß er nicht mehr lesen oder schreiben kann. Er war daran gewöhnt, die langen Winterabende gut zu nutzen, und ist nun gezwungen, in einem dunklen Zimmer ohne Ablenkung oder Beschäftigung zu warten, bis es Zeit ist, ins Bett zu gehen. Gerade als seine Augen sich wieder etwas erholt haben, überkommt ihn das nächste Unglück. An einem Morgen klettert er auf einen Stuhl, um ein Fläschchen Tinte vom Regal zu holen, tritt daneben und schlägt mit dem Hinterkopf gegen die scharfe Kante einer Marmorplatte. Der Schlag ist so hart, daß man ihn auf der Straße hören kann. Van den Hull ist für einen Moment bewußtlos, steht aber ohne Hilfe wieder auf und schaut sich um: »Die Blutpfütze war gerade so groß wie eine doppelte Aderlassung, und obschon der Schädel selbst nicht beschädigt war, hatte ich dennoch eine drei Daumen lange klaffende Wunde am Hinterkopf davongetragen, die mich mehrere Tage hintereinander daran hinderte, meinen Hut aufzusetzen und auszugehen.«
Immer stiller wird es um Van den Hull. Die Nachrichten, die er erhält, sind fast immer Berichte über Todesfälle. Familienmitglieder, Bekannte, Freunde, frühere Nachbarn, ehemalige Kollegen und Schüler, viele der Menschen, die in seiner Lebensgeschichte vorkamen, sind auf diesen Seiten noch einmal erwähnt, mitsamt Todesdatum und Alter. Van den Hull verläßt sein Haus kaum mehr. Sein rechtes Bein ist schmerzhaft geschwollen, er kann fast nicht mehr stehen. Er fragt sich, ob er auf seine alten Tage noch Genesung suchen soll. Er beschließt, diese Frage, wie schon so oft in seinem Leben, »der Vorsehung« zu überlassen: er kniet mühsam nieder, nimmt zwei Zettel, schreibt auf den einen »Ach Herr! In Deinem Namen >Ja<« und auf den anderen »Ach Herr, in deinem Namen >Nein<«,
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